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„Mehr Fortschritt wagen“ - Arbeitsrecht im Koalitionsvertrag 2021 - 2025 – Ein Überblick

„Mehr Fortschritt wagen“ – mit diesem Titel hat die Ampelkoalition am 24.11.2021 den Koalitionsvertrag für die 20. Legislaturperiode vorgestellt.

Unter dem Abschnitt „IV. Respekt, Chancen und Soziale Sicherheit in der modernen Arbeitswelt“ befassen sich die Koalitionäre auf ca. 6 Seiten mit den wichtigsten geplanten Vorhaben im Arbeitsrecht.

Die Parteien beabsichtigen, „jeder und jedem eine möglichst sichere Beschäftigungsbiografie zu ermöglichen und die Beschäftigungsfähigkeit durch Qualifizierung und gesunde Arbeit“ zu erhalten. Hierzu soll ein „modernes Arbeitsrecht, das Sicherheit und fair ausgehandelte Flexibilität ermöglicht“, geschaffen werden.

Die Ampel-Koalition startet damit in arbeitsrechtlicher Hinsicht mit ambitionierten Zielen in die baldige Regierungsverantwortung.

Im nachfolgenden Beitrag soll ein Überblick über die wichtigsten angedachten Regelungsmaterien gegeben werden, die die künftige Regierung anpacken will.

Betriebliche Mitbestimmung

Die Betriebsratsarbeit soll digitaler werden. Hierzu soll den Betriebsräten ein alleiniges Entscheidungsrecht zustehen, ob sie analog oder digital arbeiten. Hiermit knüpfen die Parteien an den § 129 BetrVG an, der während der Corona-Pandemie rasch verabschiedet und mit dem Ablauf des Monats Juni 2021 in Anbetracht der derzeitigen Inzidenzen wohl zu rasch wieder verschwunden ist. Das Vorhaben kann kritisch hinterfragt werden und wird wohl gerade kleinere, wenig IT-basierte Produktionsbetriebe vor nicht unerhebliche Herausforderungen stellen. Denn digital bedeutet auch, dass die notwendige Infrastruktur zur Verfügung stehen muss. In produzierenden Betrieben mit einem kleinen Teil verwaltungstechnischer IT und einem großen Teil Produktion wird dies nicht unerheblichen Aufwand mit sich bringen.

Zudem ist beabsichtigt Betriebsratswahlen künftig auch online zuzulassen. Die Umsetzung hierzu soll in einem Pilotprojekt erprobt werden. Da im kommenden Jahr die Betriebsratswahlen anstehen, bleibt mit Spannung zu erwarten, wie und auf welche Art und Weise dieses Pilotprojekt in die Tat umgesetzt werden wird.

Ferner sollen Gewerkschaften künftig einen digitalen Zugang in die Betriebe erhalten. Hierzu soll das im Juni 2021 verkündete Betriebsrätemodernisierungsgesetz evaluiert werden. Was ein digitaler Zugang bedeutet, ist offen. Denkbar ist dies etwa durch „Werbe-Mails“ oder einen digitalen Aushang. Die datenschutzrechtliche Umsetzung des digitalen Zugangs der Gewerkschaften dürfte spannend sein. Denn es ist ein Unterschied, ob die Gewerkschaft Mitarbeiter auf dem Betriebsgelände „beflyert“ oder direkt mit E-Mails, die häufig Klarnamen enthalten, kontaktiert.

Hervorzuheben ist zudem, dass die Ampel-Koalition der Verhinderung von Betriebsratsarbeit den Kampf angesagt hat, indem sie beabsichtigt, die Behinderung der Betriebsratstätigkeit zum Offizialdelikt zu machen, also zu einer von Amts wegen zu verfolgende Straftat. Bislang ist nach § 119 Abs. 2 BetrVG das Vertretungsgremium hierfür antragsberechtigt.

Unternehmensmitbestimmung

Mit Spannung dürfen ferner die, sofern sie umgesetzt werden, weitreichenden Änderungen in der Unternehmensmitbestimmung erwartet werden. Die Koalitionäre haben sich darauf verständigt, die „missbräuchliche Umgehung“ geltenden Mitbestimmungsrechts zu verhindern. Hierbei werde sich die Bundesregierung dafür einsetzen, dass die Unternehmensmitbestimmung dergestalt weiterentwickelt wird, „sodass es nicht mehr zur vollständigen Mitbestimmungsvermeidung beim Zuwachs von SE-Gesellschaften kommen kann (Einfriereffekt). Zudem soll die Konzernzurechnung aus dem MitbestG auf das DrittelbG übertragen werden, sofern faktisch eine echte Beherrschung vorliegt.

Diese Besonderheit deutschen Mitbestimmungsrechts wird derzeit nicht selten in der Restrukturierung als Vehikel zur Mitbestimmungseinschränkung genutzt. Ob die geplante Einschränkung den durch die Mitbestimmung teilweise nicht gerade als vorteilhaft erachteten Wirtschaftsstandort beeinträchtigen wird, bleibt abzuwarten. Dies dürfte auch damit zusammenhängen, wie die Koalitionäre den Begriff der „vollständigen Mitbestimmungsvermeidung“ und der „echten Beherrschung“ in der legislativen Umsetzung ausfüllen.

Arbeitszeit und Arbeitsort

Deutlich widmen sich die Koalitionäre den stets relevanter werdenden und immer mehr europarechtlich geprägten Themen Arbeitszeit und Arbeitsort. Um den Ruf nach flexibleren Arbeitszeitgestaltung gerecht zu werden, wollen die Parteien Gewerkschaften und Arbeitgeber dabei unterstützen, flexiblere Arbeitsmodelle zu ermöglichen. Hierbei soll jedoch am 8-Stunden-Tag im Arbeitszeitgesetz festgehalten werden. Allerdings soll bereits im Jahr 2022 eine Evaluationsklausel Grundlage dafür werden, „dass im Rahmen von Tarifverträgen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter bestimmten Voraussetzungen und in einzuhalten Fristen ihrer Arbeitszeit flexibler gestalten können“.

Spannend wird auch die geplante Umsetzung der Neuregelung der Tageshöchstarbeitszeit. Hier soll eine „begrenzte Möglichkeit“ zur Abweichung von den derzeit bestehenden Regelungen des Arbeitszeitgesetzes hinsichtlich der Tageshöchstarbeitszeit geschaffen werden, sofern Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen dies vorsehen. Die Koalitionäre definieren diese Möglichkeit als sogenannte „Experimentierräume“. Inwiefern diese „Experimentierräume“ durch die Betriebs- und Tarifvertragsparteien mit Leben gefüllt werden können, bleibt abzuwarten. Es dürfte jedoch kaum zu erwarten sein, dass die starren Grenzen des Arbeitszeitgesetzes unter rot-grüner Beteiligung allzu weit verschoben werden. Offen bleibt zudem, ob und wenn ja, wie Betriebe ohne Betriebsrat oder Tarifbindung von der Arbeitszeitgestaltung profitieren können. Nach der Lesart des Koalitionsvertrages sind diese wohl ausgenommen.

In der vergangenen Legislaturperiode noch von CDU/CSU abgelehnt, sollen Beschäftigte „in geeigneten Tätigkeiten“ zumindest einen Erörterungsanspruch über mobiles Arbeiten und Homeoffice erhalten. Diesen soll der Arbeitgeber nur dann widersprechen können, wenn betriebliche Belange entgegenstehen. Eine sachfremde oder willkürliche Ablehnung soll ausgeschlossen werden. Europaweites mobiles Arbeiten soll möglich sein. Spannend bleibt in diesem Kontext jedoch, wie die entsprechende Arbeitszeitdokumentation, die derzeit vor dem Hintergrund aktuellerer EuGH-Rechtsprechung diskutiert wird, dann erfasst werden soll.

Befristungen

Sachgrundlose Befristungen sollen Schritt für Schritt abgeschafft und Kettenbefristungen durch mit Sachgrund befristete Arbeitsverträge mit einer maximalen Laufzeit von sechs Jahren vermieden werden. Nur in „eng begrenzten“ Ausnahmen soll ein Überschreiten dieser Höchstdauer möglich sein. Ob die Abschaffung sachgrundloser Befristungen der Weisheit letzter Schluss ist, ist abzuwarten. Argumentativ lässt sich dem entgegenhalten, dass dies vor allen Dingen weniger qualifizierte Arbeitnehmer den Zugang zum Arbeitsmarkt versperrt und damit auch den Sprung in unbefristete Arbeitsverhältnisse.

Aus- und Weiterbildung

Im Rahmen des Ausbildungsrechts ist beabsichtigt, zur „Stärkung und Modernisierung berufsbildende Schulen“ mit Ländern, Kommunen und relevanten Akteuren einen Pakt aufzusetzen. Die Berufsorientierung und Jugendberufsagenturen sollen flächendeckend ausgebaut werden. Daneben soll eine Ausbildungsgarantie, die allen Jugendlichen ein Zugang zu einer voll qualifizierten Berufsausbildung ermöglicht, implementiert werden. Spannend wird in diesem Zusammenhang sein, wie das vielfach umstrittene Thema der (unflexiblen) Integration von Flüchtlingen auch im Rahmen der Ausbildung berücksichtigt werden wird. Die Koalitionäre beabsichtigen hierbei lediglich schemenhaft, die Hilfen, wie assistierte Ausbildung, ausbildungsbegleitende Hilfen und Verbundausbildungen für Geflüchtete „zu öffnen“.

Hinsichtlich des Themas Weiterbildung erachtet die designierte Regierung eine „gezielte Nationale Weiterbildungsstrategie“ als wesentliche Voraussetzung um die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ziele zu erreichen. Die Möglichkeiten für berufliche Neuorientierung, Aus- und Weiterbildung, auch in Teilzeit sollen verbessert und die Instrumente der Bildungspolitik und der aktiven Arbeitsmarktpolitik aufeinander abgestimmt werden. Zudem sollen bestehende Förderlücken im BAföG geschlossen und jenseits berufs- und abschlussbezogener Qualifikationen für alle ein sogenanntes „Lebenschancen-BAföG“ eingeführt werden.

Dem österreichischen Vorbild folgend möchte man ferner künftig eine Bildungs(teil)zeit ermöglichen, die Beschäftigten eine finanzielle Unterstützung für arbeitsmarktbezogene Weiterbildung, etwa zur Nachholung eines Berufsabschlusses oder einer beruflichen Neuorientierung, bietet. In Anlehnung an die im TzBfG geregelten Ansprüche auf Verringerung der Arbeitszeit soll eine Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Voraussetzung des Anspruchs auf Bildungsteilzeit sein.

Zudem ist beabsichtigt, der Bundesagentur für Arbeit eine stärkere Rolle bei der Qualifizierung und dazugehöriger Beratung zukommen zu lassen. Hierfür soll die Bundesagentur mit den regionalen Akteuren und einheitlichen Anlaufstellen vernetzt werden. Dies soll in Form des Ausbaus von Weiterbildungsverbund und dem Aufbau von Weiterbildungsagenturen erfolgen.

Unternehmen sollen künftig dahingehend unterstützt werden, dass mit einem an das Kurzarbeitergeld angelehnten Qualifizierungsgeld der Strukturwandel erleichtert werden soll. Unternehmen sollen so ihre Beschäftigten durch Qualifizierung im Betrieb halten und Fachkräfte sichern.

Tarifautonomie

Die Tarifautonomie soll unter anderem mittels „Tarifbindung“ an einen repräsentativen Tarifvertrag im Rahmen der öffentlichen Auftragsvergabe weiter gestärkt werden. Ausgliederungen zum Zwecke der Tarifflucht sollen durch eine Fortgeltung des geltenden Tarifvertrags verhindert werden, wobei § 613a BGB unangetastet bleiben soll. Dies wiederum ermöglicht auch künftig die individual- oder kollektivvertragliche Ablösung des eigentlich fortgeltenden Regelungswerks.

Sonstige geplante Änderungen

Im Übrigen haben die designierten Regierungsparteien weitere Regelungen in Angriff genommen. Spürbar für einen nicht unerheblichen Teil der arbeitenden Bevölkerung wird hierbei vor allem die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf zwölf Euro pro Stunde sein. Ob die von vielen befürchtete Kündigungswelle im Niedriglohnsektor die Folge sein wird, bleibt abzuwarten. Eine gewisse Entlastung dürfte insofern die Anpassung der Midijob-Grenze von derzeit EUR 1.300 auf EUR 1.600 bringen ebenso wie die überfällige Anpassung der Minijob-Grenze auf EUR 520.

Im Rahmen der selbständigen Tätigkeit soll im Anschluss an die kürzlich erfolgte Reform des Statusfeststellungsverfahrens dieses weiter verbessert werden, um „unbürokratisch Rechtssicherheit zu schaffen“. Insofern traten 2021 bereits nicht unerhebliche Veränderungen in Kraft. Die Entscheidung kann seither etwa auf Antrag bereits vor Beginn der Tätigkeit getroffen werden (sog. Prognoseentscheidung). Auch Gruppenfeststellungen sind mittlerweile unter bestimmten Voraussetzungen möglich.

Haushaltsnahe Dienstleistungen sollen gefördert und durch Zulagen- und Gutscheinsysteme sowie steuerfreie Arbeitgeberzuschüsse unterstützt werden.

Werkverträge und Arbeitnehmerüberlassung stehen unter dem Vorbehalt europarechtlicher Rechtsprechung. Effektivere Rechtsdurchsetzung soll für mehr Sicherheit, auch bei der Arbeit auf Abruf sorgen.

Digitale Plattformen sollen auch künftig in der Arbeitswelt als Bereicherung betrachtet und Künstliche Intelligenz in der Arbeitswelt mittels eines „menschenzentrierten Ansatzes“, „sozialer und wirtschaftlicher Innovation und Gemeinwohlorientierung“ gestaltet werden.

Der Arbeits- und Gesundheitsschutz soll an die sich neuen Herausforderungen angepasst und vor allen Dingen die psychische Gesundheit mehr in den Fokus gerückt werden. Auch das betriebliche Eingliederungsmanagement soll gestärkt werden. Wie genau ist unklar.

Fazit

Der Koalitionsvertrag enthält in arbeitsrechtlicher Sicht umfangreiche Vorhaben, die die designierte Bundesregierung sich vorgenommen hat. Wie üblich, schweigt das Papier zu wesentlichen Umsetzungsfragen. In der Kürze eines manchen Satzes vermag man die dahinter stehende Diskussion der Vertragsparteien zu vermuten. Es bleibt damit mit Spannung zu erwarten, welche gesetzgeberischen Projekte die Ampel-Koalition (mit Erfolg) in Angriff nimmt. Genügend Diskussionsgrundlage dürfte aus „roter“, „grüner“ und „gelber“ Sicht jedenfalls gegeben sein.

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