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Referentenentwurf für COVID-19 ArbGG/SGG-AnpassungsG

Es ist mehr als vier Wochen her, dass sich Bund und Länder am 22. März 2020 auf weitreichende Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie geeinigt haben. Insbesondere das Verbot von Zusammenkünften von mehr als zwei Personen sowie das Gebot, im öffentlichen Raum einen Mindestabstand von 1,50 Metern einzuhalten, haben auch die Arbeits- und Sozialgerichte veranlasst, auf Notbetrieb umzustellen und mündliche Verhandlungen einstweilen aufzuschieben. In besonderem Maße betroffen sind davon die Verfahren der Arbeitsgerichtsbarkeit, die – etwa durch frühe Güteverhandlungen – auf eine schnelle Beilegung von Streitigkeiten zwischen den Arbeitsvertragsparteien angelegt sind.

Bereits am 31. März 2020 hat die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts Ingrid Schmidt auf die Einschränkungen mit einem Eckpunktepapier reagiert, das unter anderem die Erleichterung von Verhandlungen im Wege der Videokonferenz vorsah. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat Gedanken daraus nun aufgegriffen und einen Referentenentwurf für ein „Gesetz zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit während der COVID-19-Epidemie sowie zur Änderung weiterer Gesetze (COVID-19 ArbGG/SGG-AnpassungsG)“ vorgelegt.

I. Wesentlicher Inhalt

Der Gesetzesentwurf sieht verschiedene Maßnahmen vor, die u.a. die Durchführung mündlicher Verhandlungen der Arbeits- und Sozialgerichte ohne körperliche Zusammenkunft der am Verfahren beteiligten Personen erleichtern sollen. Die Maßnahmen werden nachfolgend im Überblick dargestellt, insoweit ein arbeitsrechtlicher Bezug besteht.

1. Änderung des ArbGG

Durch Neufassung des § 114 ArbGG sollen unter der Überschrift „Infektionsschutz bei epidemischen Lagen von nationaler Tragweite“ – zunächst zeitlich begrenzt bis zum 31. Dezember 2020 – die nachfolgenden Maßnahmen eingeführt werden. Sämtliche Maßnahmen stehen unter dem Vorbehalt des Vorliegens einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 des Infektionsschutzgesetzes“. Diese hat der Bundestag mit Gesetz vom 25. März 2020 auf zunächst unbestimmte Zeit festgestellt.

1.1 Video-Zuschaltung ehrenamtlicher Richter

In Abweichung von § 128a ZPO sollen künftig ehrenamtliche Richter einer mündlichen Verhandlung durch Bild- und Tonübertragung beiwohnen können. Dies betrifft sowohl die Verhandlung als auch die Beratung und Abstimmung. Dabei soll durch „organisatorische Maßnahmen“ sichergestellt werden, dass das Beratungsgeheimnis gewahrt wird. Eine Video-Zuschaltung ehrenamtlicher Richter der Arbeitsgerichte ist gesetzlich bislang nicht vorgesehen.

1.2 Anordnung von Videokonferenzen

Die Arbeitsgerichte sollen künftig in Abweichung von § 128a ZPO anordnen können, dass sowohl die Parteien, ihre Bevollmächtigten als Zeugen und Sachverständige an einer mündlichen Verhandlung von einem anderen Ort aus teilnehmen müssen. Voraussetzung ist, dass die betroffenen Personen die technischen Voraussetzungen für die Bild- und Tonübertragung in zumutbarer Weise vorhalten können. Gegen die gerichtliche Anordnung soll binnen einer Woche nach Bekanntgabe die sofortige Beschwerde statthaft sein.
Bislang kann auf Antrag lediglich die Video-Vernehmung von Zeugen oder Sachverständigen angeordnet werden, und dies auch nur auf Antrag der Parteien bzw. der Beweispersonen selbst. Für Parteien und deren Anwälte können die Gerichte zwar die Möglichkeit einer Video-Zuschaltung schaffen. Diesen steht es aber frei, trotzdem zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen.

1.3 Ausschluss der Öffentlichkeit

Die Arbeitsgerichte sollen künftig die Öffentlichkeit von mündlichen Verhandlungen ausschließen können, wenn infolge einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite der erforderliche Gesundheitsschutz nicht anders zu gewährleisten ist. Der Ausschluss der Öffentlichkeit ist gemäß § 52 ArbGG derzeit nur in eng begrenzten Ausnahmefällen vorgesehen, etwa bei Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder zum Schutz der Privatsphäre der Prozessbeteiligten. Daneben kann ein Ausschluss im Güteverfahren auch aus Zweckmäßigkeitsgründen erfolgen.

1.4 Erleichterung des schriftlichen Verfahrens

In Verfahren vor dem Bundesarbeitsgericht soll abweichend von § 128 ZPO in Zukunft auch ohne Zustimmung beider Parteien das schriftliche Verfahren angeordnet werden können. Das schriftliche Verfahren ermöglicht es dem Gericht, eine Entscheidung ohne vorherige mündliche Verhandlung zu treffen. Soweit das schriftliche Verfahren angeordnet wird, soll vor dem Bundesarbeitsgericht sowie den Landesarbeitsgerichten der Verkündungstermin durch die Zustellung des Urteils ersetzt werden.

2. Änderung des KSchG

Die Frist zur Erhebung der Kündigungsschutzklage soll abweichend von § 4 S. 1 KSchG bei Vorliegen einer epidemischen Notlage von nationaler Tragweite nach § 5 IfSG von drei auf fünf Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung verlängert werden. Die Maßnahme soll zeitlich begrenzt werden auf Kündigungen, die dem betroffenen Arbeitnehmer bis einschließlich 31. Dezember 2020 zugegangen sind.

Bislang nicht geklärt ist, welche Regelung für Kündigungen gelten soll, die bereits vor Inkrafttreten der Gesetzesänderung ausgesprochen werden. Von besonderem Interesse dürfte sein, ob eine Kündigung, für die am Tage des Inkrafttretens die dreiwöchige, nicht aber die fünfwöchige Klagefrist abgelaufen ist, erneut angreifbar werden soll. Nach dem bisherigen Wortlaut der Regelung ist davon auszugehen.

3. Anhörung zu Allgemeinverbindlichkeitserklärung

Vor der Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines Tarifvertrages durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) ist betroffenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gemäß § 5 Absatz 2 TVG Gelegenheit zur Äußerung in einer mündlichen und öffentlichen Verhandlung zu geben. Der Gesetzesentwurf sieht vor, dass das BMAS „in begründeten Fällen“ eine Teilnahme an der Verhandlung mittels Video- oder Telefonkonferenz vorsehen kann. Die Regelung ist nicht explizit an das Vorliegen einer epidemischen Notlage von nationaler Tragweite geknüpft und soll – anders als die vorgenannten Maßnahmen – keiner zeitlichen Begrenzung unterliegen, sondern dauerhaft gelten.

4. Sitzungen der Mindestlohnkommission

Die Durchführung von Sitzungen der Mindestlohnkommission gemäß § 10 Abs. 4 MiLoG ist bislang lediglich unter physischer Anwesenheit der beteiligten Personen möglich. Die Teilnahme und Beschlussfassung soll künftig in begründeten Ausnahmefällen auf Vorschlag des Vorsitzenden mittels Videokonferenz ermöglicht werden, soweit kein Mitglied widerspricht und sichergestellt wird, dass Dritte vom Inhalt der Sitzung keine Kenntnis nehmen können. Die Änderung ist ebenfalls auf Dauer angelegt und bedarf zu Ihrer Anwendbarkeit keiner epidemischen Notlage von nationaler Tragweite.

5. Sitzungen des Heimarbeitsausschusses

Die Teilnahme an Sitzungen des Heimarbeitsausschusses gemäß § 4 Absatz 3 HAG sollen aus Anlass der COVID-19-Pandemie auf Vorschlag des Vorsitzenden mittels Video- oder Telefonkonferenz ermöglicht werden, wenn kein Beisitzer unverzüglich widerspricht und sichergestellt wird, dass Dritte vom Inhalt der Sitzung keine Kenntnis nehmen können. Die Regelung soll zeitlich begrenzt bis 31. Dezember 2020 gelten.

II. Erste Reaktionen

1. Der Gesetzesentwurf ist nach Bekanntwerden auf ein breites Echo in der juristischen Öffentlichkeit gestoßen. Neben zustimmenden Kommentaren, die eine angemessene Reaktion auf die gegenwärtigen Beeinträchtigungen sehen, finden sich mitunter auch kritische Reaktionen, insbesondere im Hinblick auf die Möglichkeit des Ausschlusses der Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen.

2. Die Bundesrechtsanwaltskammer fordert in ihrer Stellungnahme vom 16. April 2020 insoweit eine Klarstellung dahingehend, dass der Ausschluss der Öffentlichkeit nur als „ultima ratio“ in Betracht kommen solle. Um dies sicherzustellen, solle als milderes Mittel zusätzlich die Möglichkeit einer „Beschränkung“ der Öffentlichkeit in den Gesetzeswortlaut mitaufgenommen werden. In diesem Sinne zu denken wäre etwa an eine Beschränkung auf eine gewisse Zuschauerzahl, ausreichenden Sitzabstand, Tragen von Mundschutz oder Plexiglasscheiben vor der Richterbank.

3. Weitere Kritik wurde an der verlängerten Klagefrist für die Kündigungsschutzklage geübt. Diese sei einerseits auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht unbedingt erforderlich, da verspätet eingereichte Klagen bereits gemäß § 5 KSchG zugelassen werden könnten, wenn Arbeitnehmer aufgrund der momentanen Umstände an einer rechtzeitigen Einreichung gehindert sein sollten. Zum anderen wird bemängelt, dass eine Übergangsregelung für Kündigungen fehlt, die vor Inkrafttreten des Gesetzes ausgesprochen wurden. Ein möglicher Lösungsansatz wäre, die verlängerte – fünfwöchige – Klagefrist nur auf solche Kündigungen anzuwenden, für die bei Inkrafttreten des Gesetzes die verkürzte – dreiwöchige – Klagefrist noch nicht abgelaufen war.

4. Zweifel bestehen auch hinsichtlich der technischen Durchführbarkeit der Maßnahmen. Da der Gerichtsalltag auch im Jahr 2020 noch weitestgehend in analoger Form abläuft, dürften die für Videoübertragungen erforderlichen technischen Mittel in vielen Arbeitsgerichtssälen bislang nicht vorhanden sein. Die Bundesrechtsanwaltskammer weist in ihrer Stellungnahme vom auf diesen Missstand gesondert hin und bemängelt, dass die Verantwortung für die Umsetzung – insbesondere auch zur Wahrung des Beratungs- und Abstimmungsgeheimnisses - damit allein auf die Berufsrichter verlagert werde, die sich die praktische Umsetzung mithin selbst „ausdenken“ müssten.

5. Auch die Möglichkeit der Parteien, vor und während der Verhandlungen in angemessener Weise mit ihrem anwaltlichen Vertreter zu kommunizieren, dürfte bei Video-Konferenzen stark eingeschränkt sein. Dies gilt zumindest dann, wenn die eingesetzte Software keinen sicheren Ausschluss der übrigen beteiligten Personen ermöglicht. Der Gesetzesentwurf sieht insoweit bislang vor, dass die einseitige Anordnung durch das Gericht nur möglich sein soll, sofern die beteiligten Personen die technischen Voraussetzungen für die Bild- und Tonübertragung in zumutbarer Weise vorhalten können. Soweit dies nicht der Fall ist, wovon in einer Vielzahl der Fälle auszugehen ist, muss eine Video-Übertragung deshalb weiterhin unterbleiben.

III. Ausblick

1. Abseits der Herausforderungen zur praktischen Umsetzung dürften die vorgeschlagenen Maßnahmen gleichwohl eine Chance darstellen, flexibleren Durchführungswegen für mündliche Verhandlungen zu einer breiteren Akzeptanz zu verhelfen. Denkbar ist auch ein „Innovationsschub“ für die Arbeitsgerichte, für die bislang häufig keine zwingende Notwendigkeit zur technischen Aufrüstung bestand. Gerade von der Möglichkeit der Video-Zuschaltung von Zeugen oder Sachverständigen wird trotz der eingeräumten Möglichkeit in § 46 ArbGG iVm. § 128a ZPO bislang relativ selten Gebrauch gemacht, obwohl dadurch mitunter beträchtliche Anreisewege und die damit verbundenen zeitlichen und monetären Kosten vermieden werden könnten.

2. Zu berücksichtigen bleibt aber, dass die unmittelbare Wahrnehmung in physischer Gegenwart durch eine Videoübertragung in der Regel nicht in gleichwertiger Weise ersetzt werden kann. Es bleibt daher abzuwarten, ob die geplanten Maßnahmen im Falle ihrer Umsetzung Signalwirkung über den 31. Dezember 2020 hinaus entfalten werden. Mit einer Umsetzung, ggf. in geänderter Fassung, im Gesetzgebungsverfahren des Bundes dürfte angesichts der Dringlichkeit der momentanen Situation in nicht allzu ferner Zukunft gerechnet werden. Ihre Handlungsfähigkeit haben Bundestag und Bundesrat im Laufe der bisherigen Krise bereits unter Beweis gestellt.

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