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Betriebsvereinbarung über die Vergütung von An- und Abfahrtszeiten eines Außendienstmitarbeiters

Mit Urteil vom 18.03.2020 hat das Bundesarbeitsgericht (BAG - 5 AZR 36/19) entschieden, dass eine Regelung in einer Betriebsvereinbarung, die je 20 Minuten der Anfahrt zum ersten Kunden und der Abfahrt vom letzten Kunden eines Außendienstmitarbeiters von der Arbeitszeit ausnimmt, wegen Verstoßes gegen § 77 Abs. 3 BetrVG unwirksam ist, wenn der einschlägige Tarifvertrag vorsieht, dass alle Tätigkeiten des Arbeitnehmers im Rahmen seiner vertraglich geschuldeten Tätigkeit einschließlich der Fahrtzeit zu vergüten sind.

Sachverhalt

Der Kläger ist seit dem 01.02.2001 als Servicetechniker im Außendienst bei der Beklagten beschäftigt. Er erhält seine Aufträge zentral aus der Hauptverwaltung der Beklagten und fährt sodann am Folgetag regelmäßig direkt von zuhause die Kunden an und abends unmittelbar nach Hause zurück.

Die Beklagte ist aufgrund Mitgliedschaft im vertragschließenden Arbeitgeberverband an die Tarifverträge des Groß- und Außenhandels Niedersachsen gebunden. Kraft dynamischer Bezugnahme im Arbeitsvertrag finden diese Tarifverträge auf das Arbeitsverhältnis Anwendung. Nach Ziffer 4 Buchst. b des Arbeitsvertrags gelten zudem die zwischen der Geschäftsführung und dem Betriebsrat abgeschlossenen Betriebsvereinbarungen. Die Betriebsvereinbarung über die Ein- und Durchführung von flexibler Arbeitszeit für Servicetechniker vom 27.06.2001 (im Folgenden: BV) lautet auszugsweise:

"§ 8 An- und Abfahrtszeiten

Anfahrtszeiten zum ersten und Abfahrtszeiten vom letzten Kunden zählen nicht zur Arbeitszeit, wenn sie 20 Minuten nicht übersteigen. Sobald die An- oder Abreise länger als 20 Minuten dauert, zählt die 20 Minuten übersteigende Reisezeit zur Arbeitszeit. Insoweit sind für den Kundendiensttechniker jeweils 20 Minuten Fahrzeit für An- und Abreise zumutbar."

Aufgrund dieser Regelung ließ die Beklagte im Zeitraum März bis August 2017 Fahrtzeiten des Klägers im Umfang von 68 Stunden und 40 Minuten unberücksichtigt, deren vollständige Gutschrift, hilfsweise Vergütung, der Kläger mit seiner Klage begehrt. Er behauptet, dass in den ersten Monaten des Arbeitsverhältnisses vor Abschluss der BV keine Abzüge für Fahrtzeiten vorgenommen worden seien. Diese Fahrten stellten einen Teil seiner Hauptleistungspflicht und in vollem Umfang Arbeitszeit dar. Insbesondere sehe der Arbeitsvertrag weder den vorgenommenen Abzug vor, noch stehe er unter dem Vorbehalt einer ablösenden Betriebsvereinbarung, sodass er als günstigere Regelung gegenüber der BV zur Anwendung komme. Die Beklagte beruft sich in erster Linie auf die Betriebsvereinbarungsoffenheit des Arbeitsvertrags.

Die Vorinstanzen (LAG Düsseldorf, Urteil vom 14.12.2018 – 10 Sa 96/18) hatten die Klage abgewiesen. Sie hatten angenommen, dass die Klausel der BV die Fahrtzeiten wirksam von der Vergütung ausnehme. Insbesondere verstoße sie nicht gegen die Sperre des § 77 Abs. 3 BetrVG. Nach dieser Norm können zwar „Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein.“ Die BV betreffe aber gerade keinen solchen Gegenstand: Sie lege nur fest, welche Leistungen des Arbeitnehmers als Erfüllung seiner vertraglich geschuldeten Arbeitspflicht anzusehen sind, und regele weder Umfang der Leistungspflicht noch Höhe der Gegenleistungspflicht.

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers hatte Erfolg. § 8 der BV sei entgegen der Auffassung der Vorinstanzen wegen Verstoßes gegen § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG unwirksam. Nach dem einschlägigen Manteltarifvertrag (MTV) seien nämlich sämtliche Tätigkeiten, die ein Arbeitnehmer in Erfüllung seiner vertraglichen Hauptleistungspflicht erbringt, mit der tariflichen Grundvergütung abzugelten. Dazu gehöre bei Außendienstmitarbeitern die gesamte für An- und Abfahrten zum Kunden aufgewendete Fahrtzeit. Durch die Verkürzung der vergütungspflichtigen Fahrtzeiten betreffe die BV also einen tariflich geregelten Gegenstand. Mangels Öffnungsklausel im MTV zugunsten abweichender Betriebsvereinbarungen sei § 8 BV wegen Verstoßes gegen die Tarifsperre unwirksam. Die vom Landesarbeitsgericht in der Berufungsinstanz erörterte Frage der Betriebsvereinbarungsoffenheit der arbeitsvertraglichen Vereinbarung stelle sich folglich nicht. Der Kläger könne vielmehr die Gutschrift der umstrittenen Fahrtzeiten verlangen, soweit die vertraglich geschuldete regelmäßige Arbeitszeit überschritten wurde.

Hinweis für die Praxis

Die Vorinstanzen stützen ihre Argumentation zu § 77 Abs. 3 BetrVG auf eine Entscheidung des BAG zu einer ähnlichen Betriebsvereinbarung (BAG, Beschluss vom 10.10.2006 - 1 ABR 59/05). Hier hatte das BAG angenommen, dass die teilweise Ausnahme der Fahrtzeiten von der Arbeitszeit lediglich bestimme, welche Handlungen des Arbeitnehmers als Erfüllung seiner vertraglichen Pflicht gelten. Dass die vorliegende Entscheidung des BAG im Ergebnis von der Entscheidung aus dem Jahr 2006 abweicht, liegt in dem vorliegend einschlägigen MTV begründet, wonach jegliche Tätigkeit des Arbeitnehmers im Rahmen der vertraglichen Hauptleistungspflicht, einschließlich der An- und Abfahrten zum Kunden aufgewendete Fahrtzeit, zu vergüten ist. In dem Sachverhalt, der dem Urteil von 2006 zugrunde lag, waren solche Zeiten dagegen von den Dienstzeiten ausdrücklich ausgenommen. Dadurch war es den Betriebsparteien – anders als im vorliegenden Fall – möglich, die Fahrtzeiten ebenfalls nicht als Arbeitszeiten zu behandeln. Daran wird deutlich, dass das Eingreifen der Tarifsperre für jeden Einzelfall anhand der geltenden Tarifverträge überprüft werden muss. Höchstrichterlich aufgestellte Grundsätze können daher nicht ungeprüft als allgemeingültig übernommen werden, sondern sind stets in den Gesamtkontext einzuordnen.

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