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Fristlose Kündigungen aufgrund Teilnahme an „wildem Streik“

Die Teilnahme an Streiks, die nicht gewerkschaftlich organisiert sind (sog. „wilden Streiks“) stellen eine Verletzung der arbeitsvertraglichen Hauptpflicht dar und können eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen. Dies folgt aus einem Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 25.04.2023 (Az. 6 Sa 868/22).

Sachverhalt

Dem Urteil liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die Beklagte betreibt unter dem Namen Gorillas einen Fahrradlieferservice. Anfang Oktober 2021 hatten sich mehrere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor einzelnen Filialen des Lieferdienstes versammelt und protestiert. Hierbei wurde der Zugang zu den Filialen blockiert und Lieferfahrräder auf den Kopf gestellt. Die Streikaktion war nicht gewerkschaftlich organisiert. Gorillas hatte hieraufhin fristlose Kündigungen aufgrund der Beteiligung an dem „wilden Streik“ ausgesprochen, wogegen drei Mitarbeiter geklagt hatten.

Entscheidungsgründe

Wie bereits die erste Instanz entschied auch das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg zugunsten des Unternehmens. Dem Landesarbeitsgericht zufolge sei die Beteiligung an „wilden Streiks“ als erhebliche arbeitsrechtliche Pflichtverletzung zu werten. Es sei nicht davon auszugehen, dass nicht gewerkschaftlich organisierte Protestaktionen als zulässige Ausübung des Streikrechts nach Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG gewertet werden könnten. Dies auch nicht vor dem Hintergrund der Europäischen Sozialcharta (RESC). Die Kündigungen der nachweisbar an den Streiks beteiligten Arbeitnehmer sei wirksam.

Hinweis für die Praxis

Der Arbeitskampf dient in seiner Hilfsfunktion für die aus Art. 9 Abs. 3 GG folgenden Tarifautonomie grundsätzlich dem Ausgleich sonst nicht lösbarer tariflicher Interessenkonflikte (vgl. BAG 07.06.1988 - 1 AZR 372/86). Weiter reicht das deutsche Streikrecht nicht. Arbeitnehmer dürfen daher nicht einfach im Falle unliebsamer Arbeitsbedingungen oder auch Arbeitgeberentscheidungen ihrem Protest durch Niederlegung der Arbeit Ausdruck verleihen.

Etwas anderes folgt dem Wortlaut zufolge auf den ersten Blick insofern auch nicht aus der europarechtlichen Verankerung des Streikrechts. Nach Teil II Art. 6 Nr. 4 der Revidierten Europäischen Sozialcharta (RESC) verpflichten sich die Vertragsparteien zur Gewährleistung der Ausübung des Rechts auf Kollektivverhandlungen dazu, das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts im Fall von Interessenkonflikten durch die Mitgliedstaaten anzuerkennen. Auch die europarechtlichen Rahmenbedingungen setzen also einen Bezug zu „kollektiven Maßnahmen“ voraus. Umstritten ist, ob dies auch, wie im vorliegenden Fall, kollektive Maßnahmen ohne gewerkschaftliche Beteiligung umfasst. Während sich die deutsche Arbeitsgerichtsbarkeit hier eindeutig positioniert und der Rechtmäßigkeit „wilder Streiks“ eine Absage erteilt, ist auf europäischer Ebene die Lage nicht ganz so eindeutig. Der Europäische Ausschuss für Soziale Rechte hatte dem deutschen Streikrecht vor dem Hintergrund des Teil II Art. 6 Nr. 4 RESC die Europarechtskonformität abgesprochen. Die Anforderungen, die eine Gruppe von Beschäftigten erfüllen müsse, um eine „Gewerkschaft“ zu bilden, stelle eine übermäßige Einschränkung des Streikrechts dar. Dies gelte ebenfalls hinsichtlich des „deutschen“ Verbots aller Streiks, die nicht auf die Erzielung eines Tarifvertrags abzielten (vgl. European Committee of Social Rights, Conclusions XXI-3 - Germany - Article 6-4). Die Bundesregierung wiederum sah sich unter Berufung auf die oben zitierte Rechtsprechung des BAG aus dem Jahre 1988 nicht in der Pflicht dieser Empfehlung zu folgen (vgl. BT-Drs. 13/11415, 18).

Das Landesarbeitsgericht hat die Revision wohl aufgrund der „gefestigten Rechtsprechung“ gleichwohl nicht zugelassen. Damit bliebe neben der Nichtzulassungsbeschwerde noch der „Gang nach Karlsruhe“. Ob diese Wege beschritten werden, bleibt abzuwarten.

Für Arbeitgeber ändert sich zunächst einmal jedenfalls nichts: Die Beteiligung an einem „wilden Streik“ stellt einen Kündigungsgrund dar.

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