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Verfahrensverstoß des Arbeitgebers kann eine Entschädigungspflicht nach AGG auslösen

Das Bundesarbeitsgericht hat mit seinem Urteil vom 2. Juni 2022 entschieden, dass ein Verstoß des Arbeitgebers gegen Verfahrens-/Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Personen die Vermutung einer Benachteiligung aufgrund der (Schwer)Behinderung begründen kann, die einen Anspruch auf Entschädigung auslösen kann.

Sachverhalt

Der Kläger war als Hausmeister bei der beklagten Grundschule beschäftigt. Grundlage der Beschäftigung war ein zwischen der Beklagten und der Stadt L. geschlossener Vertrag „über eine Personalgestellung“. Seit dem 11. Februar 2018 war der Kläger arbeitsunfähig erkrankt. Er erlitt am 11. Februar 2018 einen Schlaganfall und lag mit halbseitiger Lähmung auf der Intensivstation, was der Beklagten auch einen Tag später mitgeteilt wurde. Am 14. Februar 2018 kündigte die Stadt L. den Personalgestellungsvertrag. Ende März kündigte die Beklagte das mit dem Kläger bestehende Arbeitsverhältnis, weil der Personalgestellungsvertrag mit der Stadt L. ende. Der Kläger reichte Kündigungsschutzklage ein. Das Verfahren wurde erstinstanzlich durch Vergleich erledigt. Darüber hinaus erhob der Kläger Klage auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG, mit der Begründung, er sei wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt worden. Die Beklagte habe gegen Verfahrensvorschriften zugunsten schwerbehinderter Personen verstoßen, indem sie insbes. die Zustimmung des Integrationsamts vor Ausspruch der Kündigung nicht eingeholt hatte. Zum Zeitpunkt der Kündigung habe zwar weder ein Nachweis der Schwerbehinderung vorgelegen noch sei ein Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderung gestellt gewesen, allerdings sei seine Schwerbehinderung zum Zeitpunkt der Kündigung für den Arbeitgeber offenkundig gewesen.

Entscheidung

Bereits das Landesarbeitsgericht Sachsen-Anhalt wies die Klage ab. Das BAG hat diese Entscheidung bestätigt. Zwar hatte der Kläger mit seinem Begehren auf Zahlung keinen Erfolg, dennoch ist das BAG in seinem Urteil deutlich: der Verstoß gegen Verfahrens-/Fördervorschriften, die zugunsten schwerbehinderter Personen wirken, kann einen Entschädigungsanspruch auslösen. Dies aber nur dann, wenn dadurch die Vermutung begründet wird, dass die Schwerbehinderung (mit)ursächlich für die Benachteiligung war. Das BAG stellte im konkreten Fall zunächst fest, dass der Kläger durch die Kündigung gemäß § 3 Abs. 1 AGG unmittelbar benachteiligt worden war. Es führt zur Entscheidungsbegründung aber aus, dass der Kläger nicht ausreichend dargelegt habe, dass die Benachteiligung aufgrund seiner Schwerbehinderung erfolgt sei. Denn aus Sicht des BAGs war für die Beklagte zum Zeitpunkt der Kündigung von keiner offenkundigen Schwerbehinderung auszugehen. Ohne nachweisliche Kenntnis des Arbeitgebers von einer Schwerbehinderung stelle die Kündigung ohne Einholung der Zustimmung des Integrationsamtes keine entschädigungspflichtige Diskriminierung dar.

Praxishinweis

Schwerbehinderte Arbeitnehmer/innen genießen einen besonderen Kündigungsschutz. Insbesondere ist vor jeder Kündigung eines (schwer)behinderten Mitarbeiters gemäß § 168 SGB IX die Zustimmung des zuständigen Integrationsamtes einzuholen. Erfolgt dies nicht, ist die Kündigung unwirksam. Allerdings muss der Arbeitgeber Kenntnis von der (Schwer)Behinderung seines Mitarbeiters haben. Dies erfolgt üblicherweise durch Nachweis der behördlich festgestellten Schwerbehinderung. Liegt dieser Nachweis nicht vor und ist die Feststellung der Schwerbehinderung nicht beantragt, kann der Arbeitnehmer keine Rechte und Pflichten aus den (noch) nicht anwendbaren Schutzvorschriften für schwerbehinderte Personen heranziehen. Hierbei ist für Arbeitgeber wichtig zu wissen: hat der Arbeitnehmer vor Zugang der Kündigung mitgeteilt, er habe beim zuständigen Versorgungamt einen Antrag auf Feststellung über das Vorliegen einer Behinderung gestellt, muss der Arbeitgeber mit der Möglichkeit rechnen, dass die Kündigung der Zustimmung des Integrationsamts bedarf und diese vorsorglich einholen.

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