Rechtsschutzversicherung: Zeitpunkt des Vorliegens der Voraussetzungen für einen Deckungsanspruch im Gerichtsprozess
Die Erfolgsaussichten der Wahrnehmung der rechtlichen Interessen des Versicherungsvernehmers sind zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren zu beurteilen, wenn zwischen Bewilligungsreife und Schluss der mündlichen Verhandlung eine Klärung der Rechtslage zu Gunsten des Versicherungsnehmers erfolgt (BGH, Urteil vom 5. Juni 2024 – IV ZR 140/23 – im Volltext noch nicht veröffentlicht). Damit kann sich ein Rechtsschutzversicherer im Deckungsprozess nicht mehr auf die zum Zeitpunkt seiner ablehnenden Entscheidung mangelnden Erfolgsaussichten berufen.
Sachverhalt und Verfahrensgang
Dem Urteil des BGH liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Der Kläger erwarb im August 2020 ein Wohnmobil und begehrte Rechtsschutz für die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen im Zusammenhang mit einer behaupteten Manipulation der Abgassteuerung dieses Fahrzeugs. Die beklagte Rechtsschutzversicherung lehnte die Deckung unter Hinweis auf mangelnde Erfolgsaussichten ab. Das Landgericht Dortmund bestätigte die Entscheidung des Rechtsschutzversicherers mit Urteil vom 4. Januar 2023 (Az. 7 O 20/22) und führte unter anderem im Zusammenhang mit einem seinerzeit vor dem Europäischen Gerichtshof anhängigen Vorabentscheidungsverfahren (Rs. C-100/21) aus, dass bei der Deckungsentscheidung der Beklagten nachträgliche Umstände jedenfalls nicht zu berücksichtigen seien. Dies sah das Oberlandesgericht Hamm (Az. 6 U 22/23) mit Urteil vom 12. Juni 2023 anders. Knapp vier Wochen vor Ablauf der im schriftlichen Verfahren gesetzten Schriftsatzfrist entschied der Europäische Gerichtshofs (Urteil vom 21. März 2023 – Rs. C-100/21), dass Geschädigten im Dieselskandal auch bei fahrlässigem Fehlverhalten der Hersteller deliktische Schadensersatzansprüche zustehen können. Dies berücksichtigte das Oberlandesgericht Hamm nunmehr „nachträglich“.
Entscheidung des Bundesgerichtshofs
Der Bundesgerichtshof bestätigte dieses Urteil. Die hinreichenden Erfolgsaussichten einer beabsichtigten Wahrnehmung der rechtlichen Interessen des Versicherungsnehmers seien zwar grundsätzlich zu dem Zeitpunkt der Bewilligungsreife, also zu dem Zeitpunkt der Entscheidung des Rechtsschutzversicherers über die Deckung, zu beurteilen. Treten zwischen der ablehnenden Entscheidung des Rechtsschutzversicherers und der gerichtlichen Entscheidung über die Deckungsklage aber Änderungen in der Beurteilung der Erfolgsaussichten ein, die sich zugunsten des Versicherungsnehmers auswirken, sind diese bei der Prüfung der Erfolgsaussichten der beabsichtigten Interessenwahrnehmung durch das Berufungsgericht zu beachten. Dies vorausgesetzt sei auch die Entscheidung des Oberlandesgerichts in der Sache zutreffend. Ohne Rechtsfehler sei das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die von dem Kläger beabsichtigte Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich ergangenen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs hinreichende Aussicht auf Erfolg habe. Dem stehe auch nicht entgegen, dass zu vorgenanntem Zeitpunkt Einzelheiten der Voraussetzungen und Modalitäten eines Schadensersatzanspruchs noch der Klärung durch die nationale Rechtsprechung bedurften. Vor dem Hintergrund der Entscheidung des Europäischen Gerichtshof sei die Geltendmachung eines Schadensersatzanspruch seinerzeit jedenfalls nicht unvertretbar. Zu Recht unberücksichtigt ließ der Bundesgerichtshof, die sich nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung abzeichnenden, die Erfolgsaussichten der beabsichtigten Interessenwahrnehmung wiederum in Frage stellenden, Entwicklungen in der nationalen Rechtsprechung.
Praxishinweis
Mit seinem Urteil schafft der Bundesgerichtshof mit Blick auf sich widersprechende oberlandesgerichtliche Entscheidungen nunmehr Klarheit. Mit Beschluss vom 21. Juni 2022 (Az. 16 U 53/22) stellte etwa das Oberlandesgericht Schleswig für die Beurteilung der Erfolgsaussichten noch ausdrücklich auf den Zeitpunkt der Bewilligungsreife ab und wies die Berufung eines Versicherungsnehmers in einem ähnlich gelagerten Fall zurück. Für Versicherungsnehmer wird damit gerade in Rechtsstreitigkeiten, die noch nicht abschließend entschieden sind, die Rechtsstellung gegenüber Rechtsschutzversicherern verbessert.
11. Juni 2024