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Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nach Kündigung

Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen hat mit Urteil vom 08.03.2023 (Az. 8 Sa 859/22) entschieden, dass eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auch dann ihren Beweiswert für die Krankheit behält, wenn der Arbeitnehmer sich exakt bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses krankmeldet. Dabei kommt es aber auf die zeitliche Abfolge von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und Kündigung an.

Sachverhalt

Dem Urteil des Landesarbeitsgerichts (LAG) Niedersachsen liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Der Kläger war bei der Beklagten, einer Zeitarbeitsfirma, seit dem 16.03.2021 als Helfer mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 35 Stunden beschäftigt. Die Beklagte setzte den Kläger seit dem 21.04.2022 nicht mehr ein. Der Kläger legte der Beklagten am 02.05.2022 eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung seines behandelnden Arztes vom 02.05.2022 für den Zeitraum ab dem 02.05.2022 bis 06.05.2022 vor. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 02.05.2022, dem Kläger zugegangen am 03.05.2022, ordentlich zum 31.05.2022. Durch Folgebescheinigung vom 06.05.2022 wurde eine Arbeitsunfähigkeit des Klägers bis zum 20.05.2022 festgestellt, durch weitere Folgebescheinigung vom 20.05.2022 eine bis zum 31.05.2022 fortbestehende Arbeitsunfähigkeit.

Der Arbeitgeber verweigerte daraufhin die Entgeltfortzahlung und begründete dies mit Schreiben vom 23.05.2022, da er eine Koinzidenz zwischen der Kündigung und der ab dem 02.05. bis zum 31.05.2022 bescheinigten Arbeitsunfähigkeit sah.

Der Arbeitnehmer klagte daraufhin auf Entgeltfortzahlung in Höhe von auf EUR 1.675,52 brutto.

Mit Urteil vom 26.10.2022 gab das Arbeitsgericht der Klage statt. Die Beklagte legte gegen das Urteil Berufung beim LAG Niedersachsen ein.

Entscheidungsgründe

Das LAG Niedersachsen wies die Berufung als unbegründet zurück. Das Arbeitsgericht habe zutreffend entschieden, dass dem Kläger ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung im vorliegenden Fall zustehe.

Nach allgemeinen Grundsätzen trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für die Anspruchsvoraussetzungen des § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG (BAG 11.12.2019 – 5 AZR 505/18), wobei er seine Arbeitsunfähigkeit in der Regel mit einer ordnungsgemäße ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nachweist. Mit Urteil vom 08.09.2021 (Az.: 5 AZR 149/21) hat der Fünfte Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) entschieden, dass dann, wenn ein Arbeitnehmer, der sein Arbeitsverhältnis kündigt, am Tag der Kündigung arbeitsunfähig krankgeschrieben wird, dies den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung insbesondere dann erschüttern kann, wenn die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfasst (zeitliche Koinzidenz).

Zwar war das LAG Niedersachsen grundsätzlich der Auffassung, dass diese Rechtsprechung des BAG auch für den Fall der arbeitgeberseitigen Kündigung anzuwenden sei, wenn der Arbeitnehmer sich "postwendend" nach deren Erhalt arbeitsunfähig meldet. Ein solcher Fall sei grundsätzlich ebenfalls geeignet, eines der Elemente zu bilden, die in der Gesamtschau den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern vermögen.

Allerdings nahm das LAG Niedersachsen an, dass es sich vorliegend eben gerade nicht um einen derartigen Fall handele. Der zeitliche Ablauf der Geschehnisse sei genau umgekehrt gewesen: Es sei der Kläger gewesen, der am 02.05.2022 eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bei der Beklagten eingereicht habe, die an eben diesem Tag ausgestellt gewesen sei und diesen Tag als ersten Tag der Krankheit benannt habe. Die Kündigung der Beklagten datiere zwar auch vom 02.05.2022, sei dem Kläger jedoch erst am 03.05.2022 zugegangen. Es könne daher dahinstehen, ob die Beklagte das Kündigungsschreiben bereits aufgesetzt hatte bzw. bereits zur Kündigung entschlossen war, als sie die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erhielt, denn darauf komme es vorliegend nicht an. Entscheidend sei, dass der Kläger nicht erst durch den Erhalt einer arbeitgeberseitigen Kündigung dazu motiviert worden sei, einen Arzt aufzusuchen, um die Ausstellung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erreichen.

Auch der Umstand, dass der Kläger einen Tag nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses wieder arbeitsfähig gewesen und bei einem anderen Arbeitgeber zu arbeiten begonnen habe, reichte aus Sicht der Kammer für eine Erschütterung des Beweiswertes (noch) nicht aus.

Die Revision wurde zugelassen.

Hinweis für die Praxis

Krankschreibungen, die mit dem Datum der Beendigung des Arbeitsverhältnisses enden, kommen in der Praxis gar nicht so selten vor. Auch wenn sich Arbeitgeber regelmäßig darüber ärgern und möglicherweise in einigen Fällen auch (zurecht) die tatsächliche Arbeitsunfähigkeit des Mitarbeiters anzweifeln, ist Vorsicht geboten. Es bedarf schon konkreter Umstände über das gleichzeitige Ende von Arbeitsverhältnis und Arbeitsunfähigkeit hinaus, die die Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begründen müssen.

Das LAG Niedersachsen ließ im vorliegenden Fall die Revision zu, da aus Sicht der Kammer durch das Urteil des BAG vom 08.09.2021 (Az.: 5 AZR 149/21) nicht hinlänglich geklärt sei, unter welchen Umständen der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert wird. Es bleibt daher abzuwarten, ob und inwieweit das BAG weitere Umstände benennen wird, die zu einer Erschütterung des Beweiswertes einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung führen könnten.

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