
Unfallversicherungsschutz im Pausenbereich
Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat mit Urteil vom 27. Februar 2023 (Az.: L 1 U 2032/22) entschieden, dass ein Beschäftigter auch dann unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung steht, wenn dieser sich zu einem arbeitsrechtlich gestatteten "Luftschnappen" in einem ausgewiesenen Pausenbereich auf dem Betriebsgelände aufhält und von einem Gabelstapler angefahren und verletzt wird. Die spezifische Betriebsgefahr verwirkliche sich in diesem Fall auch in einer Zeit ohne betriebsbezogene Verrichtung.
Sachverhalt
Dem Urteil des LSG liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Am 14. Januar 2021 kurz vor 10 Uhr begab sich der Kläger in den Außenbereich des Betriebs, in dem er beschäftigt war, um dort in dem für Fußgänger ausgewiesenen Raucherbereich, eine kurze Erholungspause im Rahmen einer arbeitsrechtlich zulässigen freien Verteilzeit einzulegen. Dem Kläger war es jederzeit gestattet, den Arbeitsplatz zu verlassen, um sich eine Pause zu nehmen, wobei er in der Wahl des Pausenortes flexibel war. Bereits wenige Minuten nach Beginn dieser Pause wurde er, im ausgewiesenen Aufenthaltsbereich stehend, von einem mit einer Gitterbox beladenen Gabelstapler angefahren und am rechten Ellenbogen und rechten Kniegelenk verletzt. Er erlitt eine Unterarmfraktur und eine Kniegelenksdistorsion. Die zuständige Berufsgenossenschaft lehnte die Anerkennung eines Arbeitsunfalls ab, weil der Kläger zur Zeit des Unfalls eine privatnützige Verrichtung ausgeführt und damit kein Arbeitsunfall vorgelegen habe.
Das Sozialgericht (SG) Mannheim folgte dieser Auffassung mit Urteil vom 27.05.2022 (Az.:S 2 U 1798/21) und sah auch keinen Versicherungsschutz wegen einer spezifischen Betriebsgefahr, weil die Gefahr in dem Pausenbereich nicht höher als allgemein am Wohn- und Beschäftigungsort gewesen sei und weil sich der Kläger dieser Gefahr freiwillig ausgesetzt habe.
Hiergegen legte der Kläger Berufung ein. Der Kläger beantragte, das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 27. Mai 2022 sowie den Bescheid vom 17. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Juni 2021 aufzuheben und das Ereignis vom 14. Januar 2021 als Arbeitsunfall festzustellen. Die Beklagte beantragte, die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Das LSG Baden-Württemberg gab der Berufung statt. Auf Basis des zur Überzeugung des Gerichts feststehenden Sachverhaltes sei das Ereignis vom 14. Januar 2021 ein Arbeitsunfall.
Zwar sah das LSG; dass es in Abweichung vom gesetzlichen Regelfall des Arbeitsunfalls zur Zeit des Unfalls an einer Verrichtung des Klägers, die einer versicherten Tätigkeit unmittelbar zuzurechnen ist, fehle. Das Unfallgeschehen stellt aber dennoch aus Sicht des LSGs einen Arbeitsunfall dar, da das streitige Ereignis unabhängig von der zur Zeit des Unfalls ausgeübten Verrichtung und der dabei zugrundeliegenden Handlungstendenz aufgrund eines spezifischen Gefahrzusammenhangs der versicherten Tätigkeit zuzurechnen sei.
Bei wertender Betrachtung hat sich der Senat davon überzeugt, dass sich bei dem Unfallereignis vom 14. Januar 2021 eine Gefahr aus der Sphäre der versicherten Tätigkeit – hier in Form des unfallverursachenden Gabelstaplers – verwirklicht habe. Der unmittelbar zum Unfall führende Einsatz des Betriebsmittels Gabelstapler sei als gefahrerhöhend im Sinne einer „besonderen Betriebsgefahr“ zu qualifizieren. Der Gabelstapler stellt ein objektiv gefährliches Betriebsmittel dar, dessen Präsenz nicht vom Willen des Klägers abhing, sondern von diesem nicht beeinflussbar war.
Der für die Annahme der Verwirklichung einer „besonderen Betriebsgefahr“ erforderliche enge zeitliche und örtliche Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit sei hier nicht dadurch entfallen, dass der Kläger seinen unmittelbaren Arbeitsplatz verlassen und einen speziell ausgewiesenen Aufenthalts-/Pausenbereich aufgesucht habe. Würde man den Aufenthalt in zu Erholungszwecken aufgesuchten und speziell eingerichteten Orten von der Zurechnung einer „besonderen Betriebsgefahr“ ausnehmen, brächte dies unplausible Wertungswidersprüche mit sich.
Nach Auffassung des LSGs habe der Kläger den Unfall nur „während“ und nicht „bei“ einer privaten Verrichtung erlitten.
Allerdings hat das LSG die Revision wird nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen. Die Frage, ob der für die Annahme der Verwirklichung einer besonderen Betriebsgefahr erforderliche enge örtliche Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit auch dann gegeben ist, wenn der Kläger seinen unmittelbaren Arbeitsplatz verlassen und einen speziell ausgewiesenen Aufenthalts-/Pausenbereich aufgesucht hat, um eine arbeitsrechtlich zulässige Erholungspause einzulegen, sei in der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BSG nicht eindeutig geklärt.
Hinweis für die Praxis
Das Urteil des LSG Baden-Württemberg stärkt den Unfallversicherungsschutz für Beschäftigte in ausgewiesenen Pausen- und Aufenthaltsbereichen. Es bleibt abzuwarten, ob sich das Bundessozialgericht dieser Auffassung anschließt. Arbeitgeber tun letztlich jedenfalls gut daran, auf Sicherheit auch in Pausen- und Aufenthaltsbereichen zu achten. Arbeitsunfälle können schließlich nur durch umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen vermieden werden.
19. April 2023