andreas imping arbeitsrecht p 1.jpg

Tarifvertragliche Nachtarbeitszuschläge

Das BAG hat mit Urteil vom 22.02.2023 (10 AZR 332/20) entschieden, dass die Regelung in einem Tarifvertrag, die für unregelmäßige Nachtarbeit einen höheren Zuschlag vorsieht als für regelmäßige Nachtarbeit, dann nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstößt, wenn ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung gegeben ist, der aus dem Tarifvertrag erkennbar sein muss. Ein solcher kann darin liegen, dass mit dem höheren Zuschlag neben den spezifischen Belastungen durch die Nachtarbeit auch die Belastungen durch die geringere Planbarkeit eines Arbeitseinsatzes in unregelmäßiger Nachtarbeit ausgeglichen werden sollen.

Sachverhalt

Dem Urteil des BAG liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die Parteien streiten über die Höhe tariflicher Nachtarbeitszuschläge. Die Klägerin leistet Schichtarbeit bei der Beklagten, einem Unternehmen der Getränkeindustrie. Für das Arbeitsverhältnis gilt der Manteltarifvertrag zwischen dem Verband der Erfrischungsgetränke-Industrie Berlin und Region Ost e.V. und der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten Hauptverwaltung vom 24. März 1998 (MTV). § 7 Nr. 1 MTV bestimmt, dass für unregelmäßige Nachtarbeit ein Zuschlag von 50% und für regelmäßige Nachtarbeit ein Zuschlag von 20% je Stunde zu zahlen ist. Die Klägerin verrichtete von Dezember 2018 bis Juni 2019 bei der Beklagten regelmäßige Nachtarbeit im tarifvertraglichen Sinn. Die Beklagte zahlte dafür Nachtarbeitszuschläge iHv. 20%.

Mit ihrer Klage hat die Klägerin die Differenzen zwischen den höheren Zuschlägen für unregelmäßige Nachtarbeit von 50% und den geleisteten Zuschlägen für regelmäßige Nachtarbeit von 20% verlangt. Sie ist der Auffassung, die Unterscheidung zwischen unregelmäßiger und regelmäßiger Nachtarbeit verstoße gegen den Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes und den unionsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz. Regelmäßige Nachtarbeit sei erheblich belastender als außerhalb von Schichtsystemen und daher seltener geleistete, unregelmäßige Nachtarbeit. Die Beklagte meint hingegen, mit der Regelung in § 7.1 MTV hätten die Tarifvertragsparteien den ihnen zustehenden Gestaltungsspielraum eingehalten. Der Zuschlag für unregelmäßige Nachtarbeit solle nicht nur die Erschwernis der Nachtarbeit ausgleichen, sondern auch den Arbeitgeber davon abhalten, in den geschützten Freizeitbereich der Arbeitnehmer einzugreifen. Zudem werde die regelmäßige Nachtarbeit neben den Zuschlägen auch durch weitere, im MTV vorgesehene Ansprüche von Schichtarbeitnehmern ausgeglichen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr teilweise stattgegeben. Mit ihrer Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Auf Ersuchen des BAG vom 09.12.2020 [10 AZR 332/20 (A)] hatte der EuGH am 07.07.2022 (C-257/21) nach Art. 267 AEUV vorab entschieden, dass mit einer tarifvertraglichen Regelung wie der streitgegenständlichen kein Unionsrecht durchgeführt werde und die Richtlinie 2003/88/EG nicht die Vergütung von Nachtarbeitnehmern regele.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten hat Erfolg. Die Regelung im MTV zu unterschiedlich hohen Zuschlägen für regelmäßige und unregelmäßige Nachtarbeit verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Arbeitnehmer, die regelmäßige bzw. unregelmäßige Nachtarbeit im Tarifsinn leisten, sind zwar miteinander vergleichbar. Auch werden sie ungleich behandelt, indem für unregelmäßige Nachtarbeit ein höherer Zuschlag gezahlt wird als für regelmäßige Nachtarbeit. Für diese Ungleichbehandlung ist vorliegend aber ein aus dem Tarifvertrag erkennbarer sachlicher Grund gegeben. Der MTV beinhaltet zunächst einen angemessenen Ausgleich für die gesundheitlichen Belastungen sowohl durch regelmäßige als auch durch unregelmäßige Nachtarbeit und hat damit Vorrang vor dem gesetzlichen Anspruch auf einen Nachtarbeitszuschlag nach § 6 Abs. 5 ArbZG. Daneben bezweckt der MTV aber auch, Belastungen für die Beschäftigten, die unregelmäßige Nachtarbeit leisten, wegen der schlechteren Planbarkeit dieser Art der Arbeitseinsätze auszugleichen. Den Tarifvertragsparteien ist es im Rahmen der durch Art. 9 Abs. 3 GG garantierten Tarifautonomie nicht verwehrt, mit einem Nachtarbeitszuschlag neben dem Schutz der Gesundheit weitere Zwecke zu verfolgen. Dieser weitere Zweck ergibt sich aus dem Inhalt der Bestimmungen des MTV. Eine Angemessenheitsprüfung im Hinblick auf die Höhe der Differenz der Zuschläge erfolgt nicht. Es liegt im Ermessen der Tarifvertragsparteien, wie sie den Aspekt der schlechteren Planbarkeit für die Beschäftigten, die unregelmäßige Nachtarbeit leisten, finanziell bewerten und ausgleichen.

Hinweise für die Praxis

Die mit großer Spannung erwartete Entscheidung – mehrere hundert gleichgelagerte Verfahren, etwa 30 verschiedene Tarifverträge betreffend, sind (allein) beim BAG anhängig – ist durchaus überraschend, hatte das BAG doch bereits mit Urteil vom 09.12.2020 (10 AZR 334/20) in einem ähnlich gelagerten Fall entschieden, dass die unterschiedliche Höhe der gewährten Nachtarbeitszuschläge nicht gerechtfertigt ist. Der höhere Zuschlag für die unregelmäßige Nachtarbeit wird nach Auffassung der Erfurter Richter jedoch vorliegend durch die fehlende Planbarkeit der unregelmäßigen Nachtarbeit rechtfertigt. Nicht wenige Arbeitgeber können somit „aufatmen“. Sie müssen die Differenz der Zuschläge an die Arbeitnehmer nicht rückwirkend auszahlen. Im Einzelfall zu prüfen bleibt jedoch, ob der jeweils einschlägige Tarifvertrag einen erkennbaren sachlichen Grund für die Differenzierung vorsieht. Ausweislich der Pressemitteilung gilt dies jedenfalls für die vergleichbaren tariflichen Regelungen zum Manteltarifvertrag für die Milch-, Käse- und Schmelzkäseindustrie vom 16.03.1989, zum Manteltarifvertrag für die milchbe- und verarbeitenden Molkereibetriebe Niedersachsen/Bremen vom 22.01.1997 sowie zum Bundesmanteltarifvertrag für die Süßwarenindustrie vom 14.05.2007.

Kontakt > mehr