Strafrechtliche Risiken der Scheinselbständigkeit
Für die Abgrenzung von sog. scheinselbständigen Rechtsanwälten und freien Mitarbeitern einer Rechtsanwaltskanzlei ist das Gesamtbild der Arbeitsleistung maßgebend und, soweit die Kriterien der Weisungsgebundenheit und Eingliederung wegen der Eigenart der Anwaltstätigkeit im Einzelfall an Trennschärfe und Aussagekraft verlieren, ist vornehmlich auf das eigene Unternehmerrisiko und die Art der vereinbarten Vergütung abzustellen. Dies hat der BGH mit Beschluss vom 08.03.2023 (1 StR 188/22) entschieden.
Sachverhalt
Dem Beschluss des BGH liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Der seit 1982 als niedergelassener Rechtsanwalt tätige Angeklagte beschäftigte über ein von ihm praktiziertes „Modell der freien Mitarbeiterschaft“ in seiner Kanzlei im verfahrensgegenständlichen Tatzeitraum von 2013 bis 2017 als alleiniger Kanzleiinhaber zwölf Rechtsanwälte zum Schein als selbständige freie Mitarbeiter, die tatsächlich bei ihm abhängig beschäftigt waren. Vor Beginn ihrer Tätigkeit in der Kanzlei schloss der Angeklagte mit den Rechtsanwälten einen im Wesentlichen gleichlautenden schriftlichen Vertrag („Freier Mitarbeitervertrag“) über eine zeitlich nicht befristete Zusammenarbeit sowie – in zehn dieser Fälle – eine im Wesentlichen gleichlautende weitere schriftliche Zusatzvereinbarung. Während der Mitarbeitervertrag insbesondere regelte, dass der Rechtsanwalt als freier Mitarbeiter für die Kanzlei tätig war, seine Sozialabgaben selbst abführte, eigenes Personal beschäftigen und selbst werben durfte sowie berechtigt war, das vereinbarte Jahresgehalt in monatlichen Teilbeträgen abzurufen, sah die Zusatzvereinbarung namentlich vor, dass die Beschäftigung eigenen Personals und die Bearbeitung von Mandaten außerhalb der Kanzlei der Zustimmung der Kanzlei bedurften und Werbemaßnahmen abzustimmen und zu genehmigen waren. Die vorgefertigten Vertragsentwürfe legte der Angeklagte den Rechtsanwälten zur Unterschrift vor, die sie ohne weiteres Aushandeln unterzeichneten.
Während ihrer Beschäftigung waren die Rechtsanwälte nur für den Angeklagten tätig, der ihnen auch die zu bearbeitenden Mandate zuwies. Sofern sie keine auswärtigen Termine wahrzunehmen hatten, erbrachten sie ihre Tätigkeit, wie vom Angeklagten erwartet und eingefordert, zu den Kanzleizeiten nahezu ausschließlich in den Kanzleiräumlichkeiten; hierfür stellte ihnen der Angeklagte, ohne sie an den Kosten zu beteiligen, neben einem eigenen Büro das geschulte kanzleiinterne Personal sowie die gesamte sonstige Infrastruktur seiner Kanzlei zur Verfügung. Das vereinbarte Jahreshonorar riefen die Rechtsanwälte regelmäßig einmal pro Monat anteilig, also in Höhe eines Zwölftels, per Rechnung ab, unabhängig von dem durch sie in dem jeweiligen Abrechnungszeitraum erwirtschafteten Umsatz. Insgesamt enthielt der Angeklagte den vier zuständigen Einzugsstellen von Februar 2013 bis Dezember 2017 in 189 Fällen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung in Höhe von 118.850,58 Euro vor.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 189 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Daneben hat es gegen den Angeklagten eine Gesamtgeldstrafe von 300 Tagessätzen zu je 200 Euro verhängt sowie die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 118.850,58 Euro angeordnet, „soweit nicht eine Verrechnung mit den freiwillig geleisteten Krankenversicherungs-/Pflegeversicherungsbeiträgen erfolgt“.
Entscheidungsgründe
Der BGH hat die Entscheidung des Landgerichts im Grundsatz bestätigt, jedoch die Zurückverweisung wegen des fehlerhaften Rechtsfolgeausspruchs, u.a. wegen rechtsfehlerhafter Berechnung der vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge bestimmt.
In der Sache sieht der BGH gemäß den Kriterien des Sozialversicherungsrechts den Angeklagten trotz der vertraglichen Vereinbarungen eindeutig als Arbeitgeber, der mit den zwölf Rechtsanwälten ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis begründet habe. So habe er Arbeitszeiten, Ort, Inhalt und Art der Tätigkeit seiner scheinselbstständigen Arbeitnehmer bestimmt. Sie hätten keinerlei Unternehmerrisiko getragen und hätten eine vom Kanzleigewinn unabhängige Vergütung erhalten. Mit der Zusatzvereinbarung hebelte der Angeklagte laut den Karlsruher Richtern den Vertrag zur freien Mitarbeit wieder aus. Die ausgezahlten Gehälter hätten demzufolge nur eine Nettovergütung gebildet und er hätte noch die Sozialabgaben abführen müssen. Die gezahlten Beiträge seiner Arbeitnehmer in die Sozialversicherungskassen lassen den Straftatbestand dabei nicht entfallen, denn diese seien keine Dritten, sondern die illegal Beschäftigten. Diese Zahlungen könnten allein in der Strafzumessung berücksichtigt werden.
Hinweis für die Praxis
Die Risiken der Fehlbewertung eines vermeintlich selbständigen Mitarbeiters sind erheblich und sollten vom Arbeitgeber nicht unterschätzt werden. Neben der drohenden Nachzahlung von Versicherungsbeiträgen für den Zeitraum von bis zu 30 Jahren sollte ein besonderes Augenmerk auf § 266a Abs. 1 StGB gerichtet werden. Der Strafbestand „folgt“ letztlich der sozialversicherungsrechtlichen Feststellung der abhängigen Beschäftigung. Täter und strafrechtliche Verantwortlicher ist der Arbeitgeber, bei einer GmbH oder einer AG also Geschäftsführer bzw. Vorstand. Im Fall strafrechtlicher Ermittlungen wird sich die Verteidigung u.a. ganz wesentlich auf den Vorsatzbereich beziehen. Im Rahmen dieser Prüfung lässt die Rechtsprechung inzwischen in Anlehnung an die Judikatur zu § 370 AO einen Vorsatz- und damit strafausschließenden Tatbestandsirrtum zu, nachdem früher lediglich ein vermeidbarer und damit allenfalls strafmildernder Verbotsirrtum angenommen wurde. Voraussetzung ist, dass der Auftraggeber in Bezug auf den sozialrechtlichen Status sich in einem rechtlichen Irrtum befand. Diesen Kurswechsel hat der BGH inzwischen auch bestätigt. Danach ist für eine strafbare Beitragshinterziehung nur noch Raum, sofern der Auftraggeber zumindest in der Laiensphäre auch eine arbeits-/ und sozial-versicherungsrechtliche Wertung vorgenommen hat, er also seine Stellung als Arbeitgeber und die daraus resultierende Abführungspflicht zumindest für möglich gehalten und deren Verletzung billigend in Kauf genommen hat. Geht der Auftraggeber jedoch auf der Grundlage sorgsam ermittelter Fakten irrtümlich davon aus, dass die Voraussetzungen für eine selbständige Leistungserbringung vorlagen, scheidet ein vorsätzliches und somit strafrechtlich sanktionierbares Verhalten aus, auch wenn die Prüfbehörden nachfolgend von einer abhängigen Beschäftigung ausgehen.
22. Juni 2023