annette roelz arbeitsrecht webp 2.jpg

EuGH entlastet Arbeitgeber bei Massenentlassungsanzeigen

Der Europäische Gerichtshof hat mit Urteil vom 13. Juli 2023 (Az. C‑134/22) entschieden, dass Art. 2 Abs. 3 Unterabsatz 2 der RL98/59 (Massenentlassungsrichtlinie – MERL), der in § 17 Abs. 3 KSchG in nationales Recht umgesetzt wurde, keinen Individualschutz für Arbeitnehmer gewährt. Damit ist eine Kündigung nicht schon deshalb unwirksam, wenn der Arbeitgeber seiner Verpflichtung aus § 17 Abs. 3 KSchG nicht nachgekommen ist, der zuständigen Behörde eine Abschrift der schriftlichen Mitteilung, mit der gegenüber den Arbeitnehmervertretern das Konsultationsverfahren eingeleitet hat, zu übermitteln.

Sachverhalt

Im Jahr 2019 wurde ein Insolvenzverfahren über das Vermögen des Arbeiters, der G GmbH, eröffnet. Am 17. Januar 2020 beschloss der Insolvenzverwalter, die Geschäftstätigkeit der G GmbH bis spätestens 30. April 2020 vollständig einzustellen und mehr als 10% der beschäftigten Arbeitnehmer zu entlassen.

Ebenfalls am 17. Januar 2020 wurde das Verfahren zur Konsultation des Betriebsrats eingeleitet und der Betriebsrat nach § 17 Abs. 2 KSchG unterrichtet. Entgegen der Übermittlungspflicht aus § 17 Abs. 3 KSchG wurde der zuständigen Agentur für Arbeit jedoch keine Abschrift dieser Mitteilung zugeleitet. Kurz darauf erstattete der Insolvenzverwalter bei der zuständigen Agentur für Arbeit eine Massenentlassungsanzeige. Sodann kündigte er die betroffenen Arbeitsverhältnisse, so auch das des Klägers.

Der Kläger erachtete die Kündigung wegen Verstoßes gegen § 17 Abs. 3 KSchG als unwirksam und erhob Kündigungsschutzklage. Sowohl das Arbeitsgericht Osnabrück als auch das Landesarbeitsgericht Niedersachsen wiesen die Klage ab. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) sah zwar den Verstoß gegen § 17 Abs. 3 KSchG. Da diese Vorschrift aber von Art. 2 Abs 3 Unterabsatz 2 MERL in nationales Recht umgewandelt worden war und weder die Richtlinie noch das deutsche Gesetz eine ausdrückliche Sanktion für einen solchen Verstoß vorsehen, zweifelte das BAG, ob diese Vorschrift seinem Sinn und Zweck nach dem Arbeitnehmer Individualschutz gewähren sollte und legte eine entsprechende Frage zur Vorabentscheidung beim EuGH vor.

Entscheidungsgründe

Der EuGH entschied mit Urteil vom 13. Juli 2023, dass Art. 2 Abs. 3 Unterabsatz 2 MERL keinen Individualschutz gewähre. Die Verpflichtung des Arbeitgebers der zuständigen Behörde eine Abschrift der schriftlichen Mitteilung, die er den Arbeitnehmervertretern für Konsultationszwecke zugeleitet hat, zu übermitteln, habe nicht den Zweck, den betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren und führe damit nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung.

Der EuGH trennt hier zwischen den Regelungen aus der Richtlinie zur Massenentlassung (Teil III) und zum Verfahren zur Information und Konsultation (Teil II). Er weist darauf hin, dass die Übermittlung der Informationen an die Arbeitnehmervertretung in einem Stadium erfolge, in dem Massenentlassungen lediglich beabsichtigt seien und in dem das Verfahren zur Konsultation der Arbeitnehmervertretung erst beginne und noch nicht abgeschlossen sei.

Daher diene die in Art. 2 Abs. 3 Unterabsatz 2 der Richtlinie 98/59 vorgesehene Übermittlung von Informationen an die zuständige Behörde nur zu Informations- und Vorbereitungszwecken, damit sie gegebenenfalls ihre Befugnisse aus Art. 4 der Richtlinie wirksam ausüben könne. Somit bestehe der Zweck der Verpflichtung, Informationen an die zuständige Behörde zu übermitteln, darin, es ihr zu ermöglichen, die negativen Folgen beabsichtigter Massenentlassungen so weit wie möglich abzuschätzen, damit sie, wenn ihr diese Entlassungen angezeigt werden, in effizienter Weise nach Lösungen für die dadurch entstehenden Probleme suchen könne.

In Anbetracht dieses Zwecks und der Tatsache, dass sie in einem Stadium erfolge, in dem der Arbeitgeber die Massenentlassungen nur beabsichtige, solle sich die zuständige Behörde nicht mit der individuellen Situation jedes einzelnen Arbeitnehmers befassen, sondern die beabsichtigten Massenentlassungen allgemein betrachten. Der Gerichtshof hat im Übrigen bereits entschieden, dass das in Art. 2 der Richtlinie 98/59 vorgesehene Recht auf Information und Konsultation zugunsten der Arbeitnehmer als Gemeinschaft ausgestaltet und kollektiver Natur ist (Urteil vom 6. Juli 2009, Mono Car Styling, C‑12/08, EU:C:2009:466, Rn. 42). Daraus folge, so der EuGH, dass Art. 2 Abs. 3 Unterabsatz 2 der Richtlinie den Arbeitnehmern einen kollektiven und keinen individuellen Schutz gewähre.

Hinweis für die Praxis

Die Entscheidung des EuGHs hat lediglich die Frage zur Auslegung von Art. 2 Abs. 3 Unterabsatz 2 MERL und damit die Frage zur Rechtsfolge bei Verstößen gegen die Übermittlungspflicht nach § 17 Abs. 3 KSchG geklärt.

Es bleibt abzuwarten, ob das BAG diese Entscheidung zum Anlass nimmt und im Falle fehlerhafter Konsultations- oder Massenentlassungsverfahren seine bisher sehr strikte Rechtsprechung, die im Falle von Verstößen gegen § 17 KSchG die Unwirksamkeit der Kündigungen zur Folge hat, überdenken wird. Möglich ist auch, dass das BAG die Frage, ob die MERL Individualschutz auch im Stadium der Massenentlassungsverfahrens entfaltet, nun ebenfalls dem EuGH vorlegt. Jedenfalls hat das BAG im Hinblick auf die hier getroffene Entscheidung ein weiteres Verfahren ausgesetzt, in dem der Insolvenzverwalter die Erstattung der Massenentlassungsanzeige für nicht erforderlich gehalten hat.

Arbeitgebern ist zum momentanen Zeitpunkt weiterhin strikt anzuraten, sich zumindest an die übrigen Anforderungen des § 17 KSchG zu halten, um eine mögliche Unwirksamkeit einer ausgesprochenen Kündigung zu vermeiden, auch wenn dies nun für den Fall des Verstoßes § 17 Abs. 3 KSchG verneint wurde. Denn die Frage, wie sich andere Fehler im Konsultations- und Anzeigeverfahren auf die Wirksamkeit einer Kündigung auswirken werden, bleibt zunächst offen.

Kontakt > mehr