Erschütterter Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aufgrund der Gesamtbetrachtung der Indizien
Das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein hat im zu entscheidenden Fall den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen der Klägerin aufgrund einer Gesamtbetrachtung der Indizien als erschüttert angesehen. Dabei setzte sich das Gericht mit der vorangegangenen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 08.11.2021 (5 AZR 149/21) auseinander. Die Klägerin, die in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Eigenkündigung während der gesamten Kündigungsfrist durch mehrere Krankschreibungen als arbeitsunfähig gemeldet war, vermochte das Gericht nicht von ihrer Arbeitsunfähigkeit zu überzeugen. Ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung der Klägerin besteht mithin nicht.
Sachverhalt
Dem Urteil des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die Klägerin war als Pflegeassistentin bei der Beklagten beschäftigt. Mit Schreiben vom 04.05.2022, datiert auf den Folgetag, kündigte die Klägerin ihr Arbeitsverhältnis zum 15.06.2022. Im Kündigungsschreiben bedankte sich die Klägerin bei dem beklagten Arbeitgeber für die Zusammenarbeit und wünschte dem Unternehmen für die Zukunft alles Gute. Zudem erbat sie die schriftliche Bestätigung der Kündigung und die Zusendung ihrer Arbeitspapiere. Die Klägerin erschien sodann ab dem 05.05.2022 nicht mehr zur Arbeit. Sie reichte eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mit Folgebescheinigung und zeitlich nachfolgend eine neue Erstbescheinigung mit zwei Folgebescheinigungen ein, die sie insgesamt durchgehend bis zum 15.05.2022 und damit passgenau für einen Zeitraum von sechs Wochen bis zum Ablauf der Kündigungsfrist als arbeitsunfähig auswiesen.
Die beklagte Arbeitgeberin hatte daraufhin die Entgeltfortzahlung in Höhe von insgesamt 3.277,72 Euro brutto verweigert. Hiergegen reichte die Klägerin Zahlungsklage beim Arbeitsgericht Lübeck ein, der zunächst stattgegeben wurde.
Im Prozess trug die Klägerin vor, es habe ein psychisch bedingtes Krankheitsbild aufgrund arbeitsplatzspezifischer Belastung vorgelegen, welches sich zunächst auch körperlich (Magenschmerzen) manifestiert hätte.
Die Beklagte wies darauf hin, dass der attestierende Arzt zeitglich mit der Klägerin eine Kollegin der Klägerin krankgeschrieben hatte, ebenfalls passgenau im Zeitraum zwischen deren Eigenkündigung und dem Ablauf der Kündigungsfrist. Die von der Klägerin vorgetragenen Gründe für die arbeitsplatzspezifische Belastung entsprächen nicht der Wahrheit, denn die Person, an deren angeblich harschen Umgang die Klägerin die Belastung knüpfte, habe tatsächlich mit der Klägerin in keinem direkten Kontakt gestanden. Ein schlüssiger Vortrag der Klägerin in Bezug auf das Vorliegen einer Erkrankung im Sinne des Entgeltfortzahlungsgesetzes läge daher nicht vor.
Abweichend von der erstinstanzlichen Entscheidung wies das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein die Zahlungsklage der Klägerin ab. Es hielt den Beweiswert der vorlegelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für erschüttert.
Entscheidungsgründe
Das Landesarbeitsgericht verwies zunächst auf den grundsätzlich hohen Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Zu erschüttern sei dieser vom Arbeitgeber nur durch das Darlegen von solchen Umständen, die an der Erkrankung des Arbeitnehmers zweifeln lassen. Im Bestreitensfall habe der Arbeitgeber diese Umstände zu beweisen. Unternehme der Arbeitgeber diese Darlegung bzw. diesen Beweis erfolgreich, komme der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kein Beweiswert mehr zu. Dann sei es Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen darzulegen, und im Bestreitensfall zu beweisen, dass eine Erkrankung im Sinne des Entgeltfortzahlungsgesetzes tatsächlich bestand.
Entgegen der Annahme des erstinstanzlichen Arbeitsgerichts sei die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu Fällen einer durchgehenden passgenauen Krankschreibung (von Kündigung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist) auf den hiesigen Fall mehrerer (Folge-) Krankschreibungen übertragbar. Denn die Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung komme nicht nur dann in Betracht, wenn der Zeitraum der attestierten Arbeitsunfähigkeit passgenau den Zeitraum bis zum Ablauf der Kündigungsfrist abdeckt. Vielmehr könne sich auch aus einer Gesamtbetrachtung von Indizien ein erschütterter Beweiswert ergeben, beispielweise, wenn die Krankschreibung aufgrund verschiedener Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen durchgehend bis zum Ende der Kündigungsfrist andauert, sie punktgenau den maximalen Entgeltfortzahlungszeitraum von sechs Wochen abdeckt und zudem aus dem Kündigungsschreiben erkennbar hervorgeht, dass der Verfasser von vorneherein nicht mehr mit seiner Anwesenheit an der Arbeitsstelle rechnet – so hier.
Damit sei es dem beklagten Arbeitgeber gelungen, den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zu erschüttern. Der Vortrag der Klägerin zum Bestehen einer arbeitsplatzspezifischen Erkrankung sei nicht geeignet, zu beweisen, dass die Klägerin tatsächlich erkrankt war. Letztlich stellte das Landesarbeitsgericht in dem hier zu entscheidenden Fall maßgeblich darauf ab, dass die Klägerin nach der Überzeugung des Gerichts ihrem Arzt Beschwerden geschildert hatte, die tatsächlich so nicht bestanden. Das Landesarbeitsgericht hat die Revision nicht zugelassen.
Hinweis für die Praxis
Die landesarbeitsgerichtliche Entscheidung liefert Arbeitgebern neue Anhaltspunkte, mit deren Hilfe die Erschütterung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen auch dann möglich ist, wenn es sich um mehrere aufeinanderfolgende Bescheinigungen handelt, die insgesamt einen „verdächtigen“ Zeitraum passgenau abdecken. Auch weitere Indizien wie beispielsweise die Formulierung der Eigenkündigung eines Arbeitnehmers können danach dazu beitragen, den Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zu erschüttern. Für Arbeitgeber, die aufgrund des hohen Beweiswerts ärztlicher Krankschreibungen grundsätzlich selten erfolgreich gegen diese vorgehen können, ist das ein kleiner Lichtblick. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die zuletzt eingeführte elektronische Krankschreibung die Möglichkeiten zur Erschütterung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen faktisch noch weiter erschwert hatte, da der Arbeitgeber nun nicht einmal Angaben zum ausstellenden Arzt, dessen Fachrichtung oder dessen Praxisniederlassung erhält.
25. Juli 2023