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EuGH-Urteil zur Nulltoleranz bei Nachweis von Listeria monocytogenes in Fischerzeugnissen vor und nach dem Inverkehrbringen

Wenn der Hersteller von Lebensmitteln, die während ihrer Haltbarkeitsdauer in den Verkehr gebracht wurden, der zuständigen Behörde nicht zufriedenstellend nachweisen kann, dass diese Produkte während ihrer gesamten Haltbarkeitsdauer den Grenzwert von 100 KBE/g nicht überschreiten, gilt hinsichtlich des Nachweises von Listeria monocytogenes die Nulltoleranzgrenze nicht. Dies hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 30. Juni 2022 (C-51/21) entschieden.

Sachverhalt

Im August 2019 entnahm eine estnische Behörde im Einzelhandel Proben von Produkten auf Basis von Lachs und Forelle, in welchen das Bakterium Listeria monocytogenes nachgewiesen wurde. Daraufhin ordneten die Behörden an, jegliche Tätigkeit in den entsprechenden Betriebsstätten bis zur Beseitigung der Verunreinigungen auszusetzen, sämtliche Produkte zurückzurufen und die Verbraucher über diesen Rückruf zu informieren. Der Hersteller der Produkte erhob Klage auf Nichtigerklärung dieser Anordnungen. Die Behörde sei nicht berechtigt gewesen, auf die Proben den Grenzwert aus der Verordnung Nr. 2073/2005 anzuwenden, nach welchem in 25 g des Lebensmittels das Bakterium nicht nachweisbar sein darf. Die Klägerin vertritt den Standpunkt, dass für bereits in Verkehr gebrachte Produkte vielmehr der Grenzwert von 100 KBE/g während der Haltbarkeitsdauer gelte. Das Verwaltungsgericht Tallinn setze das Verfahren aus und legte dem Gerichtshof die folgenden Fragen vor:

(1) Ist das in Art. 3 Abs. 1 und in Anhang I Kapitel 1 Nr. 1.2 der Verordnung Nr. 2073/2005 angeführte mikrobiologische Kriterium der Nulltoleranzgrenze unter Berücksichtigung dieser Verordnung und des Schutzes der öffentlichen Gesundheit sowie der mit dieser Verordnung und der Verordnung Nr. 178/2002 verfolgten Ziele dahin auszulegen, dass, wenn der Lebensmittelunternehmer nicht in der Lage war, der zuständigen Behörde gegenüber hinreichend nachzuweisen, dass andere als für Säuglinge oder für besondere medizinische Zwecke bestimmte verzehrfertige Lebensmittel, die die Vermehrung von Listeria monocytogenes begünstigen können, den Grenzwert von 100 KBE/g während der Haltbarkeitsdauer nicht überschreiten, dann auch für in Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer in jedem Fall dieses mikrobiologische Kriterium gilt?

(2) Falls Frage 1 verneint wird: Ist das in Art. 3 Abs. 1 und in Anhang I Kapitel 1 Nr. 1.2 der Verordnung Nr. 2073/2005 angeführte zweite mikrobiologische Kriterium der Nulltoleranzgrenze unter Berücksichtigung dieser Verordnung und des Schutzes der öffentlichen Gesundheit sowie der mit der Verordnung Nr. 2073/2005 und der Verordnung Nr. 178/2002 verfolgten Ziele dahin auszulegen, dass unabhängig davon, ob der Lebensmittelunternehmer der zuständigen Behörde gegenüber hinreichend nachweisen kann, dass das Lebensmittel den Grenzwert von 100 KBE/g während der Haltbarkeitsdauer nicht überschreitet, dann für dieses Lebensmittel zwei alternative mikrobiologische Kriterien gelten, nämlich erstens, solange das Lebensmittel unter der Kontrolle des Lebensmittelunternehmers ist, das Nulltoleranzkriterium und zweitens, nachdem das Lebensmittel die Kontrolle des Lebensmittelunternehmers verlassen hat, das Kriterium „100 KBE/g“?

Entscheidungsgründe

Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass die Nulltoleranzgrenze nach Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Anhang I Kapitel 1 Nr. 1.2 für bereits in Verkehr gebrachte Lebensmittel während ihrer Haltbarkeit nicht gilt, auch wenn der Hersteller der zuständigen Behörde nicht zur Zufriedenheit der zuständigen Behörden nachweisen kann, dass die Lebensmittel während ihrer gesamten Haltbarkeitsdauer den Grenzwert von 100 KBE/g nicht überschreiten. Für Lebensmittel, die während ihrer Haltbarkeitsdauer in den Verkehr gebracht worden seien, gelte bei einem Nachweis von Listeria monocytogenes die Nulltoleranzgrenze nicht. In einem solchen Fall müsse der Hersteller davon absehen, die Erzeugnisse in den Verkehr zu bringen.

Die Nulltoleranzgrenze greife nach Anhang I Kapitel 1 Nr. 1. 2 der Verordnung Nr. 2073/2005 für Erzeugnisse, die noch nicht aus der „unmittelbaren Kontrolle“ des Herstellers gelangt seien und damit noch nicht in den Verkehr gebracht wurden.

In der weiteren Urteilsbegründung bezieht sich der EuGH dann aber auf das Ziel der Verordnung (EG) Nr. 2073/2005, „die Sicherheit der Lebensmittel während ihrer gesamten Haltbarkeitsdauer“ zu gewährleisten und verweist auf das hohe Schutzniveau für die menschliche Gesundheit. Den zuständigen Behörden stehe ein weites Ermessen zu, um intensivere Lebensmittelkontrollen durchzuführen. Der EuGH führt aber explizit aus, dass die Verordnung (EG) Nr. 2073/2005 keine Vorschrift über Maßnahmen enthält, nachdem ein Lebensmittel unter Verstoß gegen diese Kriterien in den Verkehr gebracht wurde. In einem solchen Fall sei vielmehr die Verordnung (EG) Nr. 178/2002 heranzuziehen, welche den zuständigen Behörden in Artikel 14 Abs. 8 die Befugnis einräume, „geeignete Maßnahmen“ zu treffen.

Über die Vorschrift des Artikel 14 Abs. 8 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 gelangt der EuGH somit zur Anwendbarkeit der Nulltoleranzgrenze auf Lebensmittel, die in den Verkehr gebracht wurden, ohne dass der Hersteller der zuständigen Behörde zufriedenstellend nachgewiesen hat, dass diese Lebensmittel während ihrer Haltbarkeitsdauer den Grenzwert von 100 KBE/g nicht überschreiten. Dies stellt nach dem Urteil des EuGH eine „geeignete Maßnahme“ im Sinne von Artikel 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 178/2002 dar.

Praxishinweis

Das EuGH-Urteil ist äußerst praxisrelevant, weil es klarstellt, auf welcher Stufe das Lebensmittelsicherheitskriterium „0 in 25 g“ bei Listeria monocytogens gilt, nämlich nicht für bereits in Verkehr gebrachte Erzeugnisse. Zugleich schließt der EuGH die „Sicherheitslücke“ in der Verordnung (EG) Nr. 2073/2005 für diese Erzeugnisse über die Hintertür des Artikels 14 Abs. 8 der Verordnung (EG) Nr. 178/72002, indem die Nulltoleranzgrenze doch gelten kann, wenn der Lebensmittelunternehmer nicht zur Zufriedenheit der Behörden nachweist, dass das Lebensmittel während der Haltbarkeit den Grenzwert von 100 KBE/g nicht überschreitet. In diesem Fall sind weitreichende Maßnahmen wie Rückrufe rechtmäßig. Die Entscheidung des EuGH stärkt somit die bisherige Behördenpraxis.

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