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Kartellrecht: Die neue Gruppenfreistellungsverordnung für vertikale Vereinbarungen tritt zum 1. Juni 2022 in Kraft

Am 10. Mai 2022 hat die EU-Kommission die neue Gruppenfreistellungsverordnung für vertikale Vereinbarungen („Vertikal-GVO“) angenommen, die durch die ebenfalls überarbeiteten Leitlinien der EU-Kommission ergänzt wird. Die Vertikal-GVO bestimmt den kartellrechtlich zulässigen Rahmen für Vereinbarungen zwischen Herstellern und Händlern sowie sonstigen Abnehmern und Anbietern. Danach sind vertikale Vereinbarungen zwischen Anbieter und Abnehmer vom Anwendungsbereich des Kartellverbots ausgenommen, sofern ihr Marktanteil 30% nicht übersteigt und die Vereinbarung weder sog. Kernbeschränkungen noch sonstige nicht freistellungsfähige Klauseln (sog. Graue Klauseln) enthält.

Da die alte Vertikal-GVO aus dem Jahr 2010 zum 31. Mai 2022 ihre Gültigkeit verliert, war die Änderung erforderlich. Dem vorausgegangen war ein intensives Konsultationsverfahren, in dem Stellungnahmen von Marktteilnehmern, Verbänden und Rechtswissenschaftlern bei der Erarbeitung der Entwürfe berücksichtigt wurden.

Hintergrund der Neuregelungen

Mit den Neuregelungen werden insbesondere drei Ziele verfolgt: Der Bereich, in dem die Unternehmen bei Unterschreiten der Marktanteilsschwellen von 30 % sicher agieren können, soll an die Erfahrungen aus der Vergangenheit und neue Entwicklungen im Vertrieb angepasst werden. Die Vertikal-GVO soll im Hinblick auf die Ausweitung des elektronischen Handels und der Online-Plattformen aktualisiert werden. Schließlich sollen die bestehenden Regelungen vereinfacht und gestrafft werden, um den betroffenen Unternehmen die Anwendung zu erleichtern.

Neue Definitionen, insbesondere Alleinvertrieb und Online-Vermittlungsdienst

Die Vertikal-GVO enthält neue Definitionen, die die Anwendung der GVO erleichtern und sie an neue Vertriebsmodelle anpassen sollen. Bemerkenswert ist die Definition des Alleinvertriebssystems. Ein solches liegt nicht mehr nur dann vor, wenn der Anbieter ein Gebiet oder eine Kundengruppe sich selbst oder einem seiner Abnehmer zuweist, sondern auch wenn die Zuweisung exklusiv an bis zu fünf Abnehmer erfolgt. Dies ermöglicht mehr Flexibilität, wenn in größeren Märkten mehr als nur ein Vertriebspartner benannt werden kann.

Der Begriff des Anbieters wird auf Unternehmen erstreckt, die Online-Vermittlungsdienste erbringen. Zu diesen Diensten zählt die Vertikal-GVO sämtliche Dienste, bei denen Transaktionen zwischen Unternehmen oder zwischen Unternehmen und Verbrauchern vermittelt werden, auch wenn die Unternehmen selbst nicht unmittelbar an der Transaktion beteiligt sind. Klassische Beispiele sind Online-Marktplätze, wie z.B. Amazon Marketplace oder ebay, sowie Buchungsplattformen wie booking.com. Dadurch ist nun ausdrücklich klargestellt, dass das Handelsvertreterprivileg auf Online-Vermittlungsdienste keine Anwendung findet. Ihre Vertriebsvereinbarungen müssen den Voraussetzungen der Vertikal-GVO genügen.

Dualer Vertrieb

Neue Regelungen finden sich für den sog. dualen Vertrieb, d.h. den Fall, dass der Anbieter seine Waren sowohl selbst unmittelbar als auch über ein unabhängiges Händlernetz vertreibt, so dass er beim Vertrieb im Wettbewerb mit seinen Händlern steht. Obwohl die Vertikal-GVO grundsätzlich nicht für Wettbewerber gilt, besteht für den dualen Vertrieb dann eine Ausnahme, wenn die beteiligten Unternehmen nur auf der Handelsebene im Wettbewerb stehen, nicht jedoch auf der vorgelagerten Marktstufe. In diesem Fall bleibt die Vertikal-GVO anwendbar.

Der Anwendungsbereich wird nunmehr insofern erweitert, als die Vertikal-GVO nicht nur dann Anwendung findet, wenn es sich beim Anbieter um einen Hersteller handelt, sondern auch dann, wenn der Anbieter ein Importeur oder Großhändler ist.

Dagegen scheidet eine Freistellung von Beschränkungen im Rahmen von sog. Hybridplattformen grundsätzlich aus, d.h. solchen Plattformen, über die der Betreiber nicht nur seine eigenen Waren selbst vertreibt, sondern auch Transaktionen zwischen Dritten vermittelt.

Grundsätzlich zulässig bleibt der Informationsaustausch zwischen Anbieter und Abnehmer im dualen Vertrieb, wenn er die Umsetzung der vertikalen Vereinbarung betrifft und zur Verbesserung der Produktion oder des Vertriebs der Waren beiträgt. Die Leitlinien enthalten insofern zahlreiche konkrete Beispiele von Informationen, die im Einzelfall ausgetauscht werden dürfen oder nicht, wie z.B. Preise, Kundendaten, technische Informationen.

Kunden- und Gebietsbeschränkungen

Bedeutsame Änderungen enthält die Vertikal-GVO hinsichtlich der Möglichkeit, den Abnehmer bezüglich seiner Liefergebiete und Kunden zu beschränken. Die Beschränkungsmöglichkeiten werden insofern erheblich erweitert. Ein Exklusivvertrieb, d.h. die Zuweisung eines bestimmten Gebietes oder einer Kundengruppe an einen Abnehmer, ist nun auch dann möglich, wenn das Gebiet oder die Kundengruppe dem Anbieter selbst oder bis zu fünf seiner Abnehmer zugeteilt wurde. In diesem Fall kann den übrigen Abnehmern der aktive Verkauf in die Exklusivgebiete oder an die exklusiven Kundengruppen untersagt werden.

Darüber hinaus kann diese Aktivverkaufsbeschränkung nicht nur dem unmittelbaren Abnehmer auferlegt werden, sondern dieser auch dazu verpflichtet werden, die gleichen Beschränkungen an seine Kunden weiterzugeben.

Insgesamt wird der Schutz vor Grauimporten aus benachbarten Gebieten auch mit Blick auf selektive Vertriebsgebiete deutlich verbessert.

Online-Verkauf

Im Bereich des Online-Verkaufs weist die Vertikal-GVO zahlreiche neue Regelungen auf, die zum Teil tatsächlich neu sind, zum Teil bestehende Grundsätze aus der Rechtsprechung übernehmen.

Zunächst wird die Beschränkung der wirksamen Nutzung des Internets als neue unzulässige Kernbeschränkung aufgenommen. Dazu gehören insbesondere Beschränkungen, die den Online-Verkauf insgesamt untersagen. Ebenso darf die Nutzung von Preissuchmaschinen nicht grundsätzlich verboten werden. Das Verbot der Nutzung eines bestimmten Preisvergleichsportales kann dagegen freigestellt sein.

Zugleich enthalten die Leitlinien aber auch zahlreiche Beispiele dafür, wie der Online-Handel in zulässiger Form beschränkt werden darf:

  • Doppelpreissysteme, bei denen für den Online- und den Offline-Verkauf unterschiedliche Preise verlangt werden, sind zulässig, wenn sie nicht die Nutzung des Internets als Verkaufskanal tatsächlich verhindern und der Preisunterschied in einem angemessenen Verhältnis zu den unterschiedlichen Investitionen und Kosten steht, die dem Abnehmer für den Verkauf in den einzelnen Vertriebskanälen entstehen.
  • Der Vertrieb über Drittplattformen darf grundsätzlich untersagt werden.
  • Das sog. Äquivalenzprinzip gilt nicht mehr, d.h. die Qualitätsstandards, die in selektiven Vertriebssystemen für Online-Verkäufe festgelegt werden, müssen keine Entsprechung in den Kriterien für den stationären Offline-Verkauf finden.
  • Es dürfen bestimmte Qualitätsanforderungen für den Online-Verkauf auch außerhalb selektiver Vertriebssysteme festgelegt werden.

Im Zusammenhang mit der Nutzung von Online-Vermittlungsdiensten werden sog. Preisparitätsklauseln untersagt, d.h. dass den Abnehmern im Falle des Vertriebs über Online-Vermittlungsdienste nicht verboten werden darf, die gleichen Produkte über konkurrierende Online-Vermittlungsdienste zu günstigeren Preisen abzusetzen (weite Paritätsklausel). Zulässig ist es allerdings, den Anbietern ein Verbot aufzuerlegen, wonach sie die Produkte auf ihrer eigenen Internetseite nicht günstiger verkaufen dürfen.

Preisbindung der zweiten Hand

Die Preisbindung der zweiten Hand bleibt eine Kernbeschränkung. Ausdrücklich gilt dies nun auch für Mindestpreisrichtlinien, bei denen die Abnehmer verpflichtet werden, die betroffenen Produkte nicht unter einem bestimmten Mindestpreis weiterzuverkaufen. Zudem wird in den Leitlinien klargestellt, dass das Verbot der Preisbindung auch für Anbieter von Online-Vermittlungsdiensten gilt. Ausgenommen vom Verbot der Preisbindung bleiben weiterhin unverbindliche Preisempfehlungen und Höchstpreisvorgaben sowie Maßnahmen des Preismonitorings.

Von erheblicher Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, im Rahmen von sog. Erfüllungsverträgen den Preis vorzugeben. Hat der Anbieter mit dem Endkunden bereits eine Vereinbarung über den Bezug eines bestimmten Produkts zu einem bestimmten Preis getroffen, ist er berechtigt, dem Händler, dessen er sich zur Erfüllung der Vereinbarung bedient, den Preis vorzugeben.

Ausdrücklich untersagt ist dagegen der Einsatz von Handelsvertretern in Doppelrolle, wenn diese den gleichen Produktmarkt betreffen. Dies bedeutet, dass ein Abnehmer nicht zugleich als unabhängiger Händler und als Handelsvertreter auf dem gleichen Produktmarkt für den Anbieter tätig sein darf. Die EU-Kommission sieht insofern die Gefahr, dass der Abnehmer auch im Rahmen des unabhängigen Vertriebs hinsichtlich der Festsetzung seiner Preise beeinflusst wird.

Laufzeit von Wettbewerbsverboten

Die Vereinbarung von Wettbewerbsverboten zu Lasten des Abnehmers ist nun auch dann zulässig, wenn diese nicht automatisch spätestens nach fünf Jahren enden. Vielmehr ist eine solche Vereinbarung auch dann erlaubt, wenn der Vertrag sich nach dem Ablauf von fünf Jahren stillschweigend verlängert, sofern der Abnehmer die Möglichkeit hat, den Vertrag nach Ablauf der Fünfjahresfrist zu kündigen.

Handlungsbedarf für Unternehmen und Bewertung

Die neue Vertikal-GVO und die dazu gehörigen Leitlinien enthalten eine Vielzahl von Neuerungen, die für die betroffenen Unternehmen bei der Gestaltung ihrer Vertriebswege neue Chancen eröffnen, aber zum Teil auch engere Grenzen setzen. Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich, die bestehenden Verträge dahingehend zu überprüfen, ob sie den Anforderungen der neuen Vertikal-GVO noch genügen. Hierfür hat die EU-Kommission den Unternehmen eine Übergangsfrist von einem Jahr bis zum 31. Mai 2023 eingeräumt – angesichts von Kündigungsfristen bei bestehenden Verträgen sollte eine Überprüfung dennoch frühzeitig erfolgen. Zugleich können die neuen Chancen, insbesondere mit Blick auf den Online-Handel, Kunden- und Gebietsbeschränkungen und die Zulässigkeit von Preisvorgaben bei Erfüllungsverträgen, zur Umgestaltung bestehender Vertriebssysteme genutzt werden.

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