
Verfall von Urlaubsansprüchen
Das BAG hat mit Urteil vom 20.12.2022 (9 AZR 266/20) entschieden, dass der gesetzliche Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub zwar der gesetzlichen Verjährung unterliegt, die dreijährige Verjährungsfrist jedoch erst am Ende des Kalenderjahres beginnt, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat.
Sachverhalt
Dem Urteil des BAG liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Der Beklagte beschäftigte die Klägerin vom 01.11.1996 bis zum 31.07.2017 als Steuerfachangestellte und Bilanzbuchhalterin. Nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zahlte der Beklagte an die Klägerin zur Abgeltung von 14 Urlaubstagen 3.201,38 Euro brutto. Der weitergehenden Forderung der Klägerin, Urlaub im Umfang von 101 Arbeitstagen aus den Vorjahren abzugelten, kam der Beklagte nicht nach. Während das Arbeitsgericht die am 06.02.2018 eingereichte Klage – soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung – abgewiesen hat, sprach das Landesarbeitsgericht der Klägerin 17.376,64 Euro brutto zur Abgeltung weiterer 76 Arbeitstage zu. Dabei erachtete das Landesarbeitsgericht den Einwand des Beklagten, die geltend gemachten Urlaubsansprüche seien verjährt, für nicht durchgreifend.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten hatte keinen Erfolg. Zwar finden die Vorschriften über die Verjährung (§ 214 Abs. 1, § 194 Abs. 1 BGB) auf den gesetzlichen Mindesturlaub Anwendung. Die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren beginnt bei einer richtlinienkonformen Auslegung des § 199 Abs. 1 BGB jedoch nicht zwangsläufig mit Ende des Urlaubsjahres, sondern erst mit dem Schluss des Jahres, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat. Das BAG hat damit die Vorgaben des EuGH aufgrund der Vorabentscheidung vom 22.09.2022 (C-120/21) umgesetzt. Danach tritt der Zweck der Verjährungsvorschriften, die Gewährleistung von Rechtssicherheit, in der vorliegenden Fallkonstellation hinter dem Ziel von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zurück, die Gesundheit des Arbeitnehmers durch die Möglichkeit der Inanspruchnahme zu schützen. Die Gewährleistung der Rechtssicherheit dürfe nicht als Vorwand dienen, um zuzulassen, dass sich der Arbeitgeber auf sein eigenes Versäumnis berufe, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub tatsächlich auszuüben. Der Arbeitgeber könne die Rechtssicherheit gewährleisten, indem er seine Obliegenheiten gegenüber dem Arbeitnehmer nachhole.
Der Beklagte hat die Klägerin nicht durch Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten in die Lage versetzt, ihren Urlaubsanspruch wahrzunehmen. Die Ansprüche verfielen deshalb weder am Ende des Kalenderjahres (§ 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG) oder eines zulässigen Übertragungszeitraums (§ 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG) noch konnte der Beklagte mit Erfolg einwenden, der nicht gewährte Urlaub sei bereits während des laufenden Arbeitsverhältnisses nach Ablauf von drei Jahren verjährt. Den Anspruch auf Abgeltung des Urlaubs hat die Klägerin innerhalb der Verjährungsfrist von drei Jahren erhoben.
Hinweis für die Praxis
Die Entscheidung des BAG überrascht angesichts des EuGH-Urteils vom 22.09.2022 (C-120/21) nicht. Nicht genommener oder gewährter Urlaub kann mit Ablauf des Kalenderjahres bzw. des Übertragungszeitraums nur erlöschen, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor auf den drohenden Urlaubsverfall hingewiesen hat und den Arbeitnehmer so in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch tatsächlich wahrzunehmen. Dieser Hinweis hat konkret und transparent zu erfolgen. Der Arbeitgeber hat klar und rechtzeitig mitzuteilen, dass der Urlaub am Ende des Bezugs- oder Übertragungszeitraums verfallen wird, wenn der Arbeitnehmer ihn nicht nimmt.
Das Urteil des BAG versetzt Arbeitgeber, die dieser Mitwirkungspflicht in der Vergangenheit nicht genügt haben, und das dürfte mutmaßlich die Mehrheit sein, in die große Sorge, dass eine Vielzahl von, ggf. bereits ausgeschiedenen Arbeitnehmern in erheblichem Umfang nicht genommene Urlaubsansprüche aus lange zurückliegenden Zeiträumen geltend macht. Auf Vertrauensschutz werden sich Arbeitgeber nicht berufen können. Der EuGH hatte sich in seinen Entscheidungen vom 22.09.2022 zu diesem Thema nicht geäußert. Demgemäß müssen Arbeitgeber im Grundsatz davon ausgehen, ohne zeitliche Grenze rückwirkend bestehende Urlaubsansprüche erfüllen zu müssen, sofern sie – ggf. auch nachträglich – ihrer Mitwirkungspflicht nicht vollständig nachgekommen sein sollten. In dem Kontext wird voraussichtlich ein weiterer Aspekt abermals diskutiert werden, nämlich die Frage, ob derartigen Abgeltungsansprüchen die regelmäßig zwischen Arbeitsvertragsparteien vereinbarten Ausschlussfristen entgegengehalten werden können.
Für eine weitergehende Bewertung muss zunächst die Veröffentlichung der vollständigen entscheidungsgründe abgewartet werden. Hierbei sollten unbedingt die ebenfalls am 20.12.2022 erlassenen Urteile in den beiden Parallelverfahren 9 AZR 245/19 („Fraport“) und 9 AZR 401/19 („St. Vincenz Krankenhaus“) berücksichtigt werden. In diesen hat das BAG die Rechtsstreite an die zuständigen LAG zurückverwiesen, jedenfalls insoweit der Verfall von Urlaub bezüglich von Referenzzeiträumen in Rede steht, in denen die Kläger arbeitsunfähig erkrankt waren.
22. Dezember 2022