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Unterlassene Betriebsratsanhörung vor Ausspruch arbeitgeberseitiger Kündigungen kann eine grobe Pflichtverletzung des Arbeitgebers gem. § 23 Abs. 3 BetrVG sein

Das Landesarbeitsgericht Hessen (LAG) hat mit Beschluss vom 08.08.2022 – 16 TaBV 191/21 – entschieden, dass es eine grobe Pflichtverletzung des Arbeitgebers nach § 23 Abs. 3 BetrVG darstellen kann, wenn er Kündigungen ohne vorherige Anhörung des Betriebsrats nach § 102 Abs. 1 BetrVG ausspricht.

Sachverhalt

Dem Beschluss des Landesarbeitsgerichts Hessen liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Ende Februar 2019 erklärte der Arbeitgeber gegenüber dem Mitarbeiter A eine Kündigung, ohne den Betriebsrat zuvor angehört zu haben. Der Betriebsrat beanstandete dies neben anderen Verstößen des Arbeitgebers mit Schreiben vom 16. April 2019. Daraufhin teilte der Arbeitgeber der Verfahrensbevollmächtigten des Betriebsrats unter dem 24. April 2019 mit, dass im Fall des Herrn A eine Anhörung des Betriebsrats deshalb unterblieben sei, weil die Kündigung in Abstimmung mit dem Rechtsbeistand und auf dessen Wunsch ausgesprochen wurde, um aus der Aufhebungsvereinbarung eine Abwicklungsvereinbarung zu machen.

Ende September 2020 erklärte der Arbeitgeber sechs krankheitsbedingte Kündigungen, ohne den Betriebsrat zuvor beteiligt zu haben. Der Arbeitgeber entschuldigte dies mit einem Versehen des zuständigen Sachbearbeiters der Personalabteilung und versicherte dem Betriebsrat, dass dieser - außer in den Fällen, in denen die Kündigung auf Wunsch des Arbeitnehmers ausgesprochen werde – künftig zu jeder Kündigung angehört werde.

Mit seinem am 27. November 2020 beim Arbeitsgericht eingegangenen Antrag hat der Betriebsrat begehrt, dem Arbeitgeber aufzugeben, es unter Androhung eines Ordnungsgeldes zu unterlassen, Kündigungen auszusprechen, ohne zuvor den Betriebsrat nach § 102 BetrVG zu beteiligen.

Nachdem das Arbeitsgericht den Antrag zurückgewiesen hatte, legte der Betriebsrat mit Erfolg Beschwerde ein – das LAG gab dem Betriebsrat Recht und gab dem Arbeitgeber bei Androhung eines Ordnungsgeldes in Höhe von bis zu 10.000 EUR pro Verstoß auf, es zu unterlassen, Kündigungen auszusprechen, ohne zuvor den Betriebsrat nach § 102 BetrVG zu beteiligen.

Entscheidungsgründe

Nach § 23 Abs. 3 BetrVG kann der Betriebsrat dem Arbeitgeber bei einem groben Verstoß gegen seine Verpflichtungen aus dem Betriebsverfassungsgesetz durch das Arbeitsgericht aufgeben lassen, eine Handlung zu unterlassen. Die Regelung diene dem Schutz der betriebsverfassungsrechtlichen Ordnung gegen grobe Verstöße des Arbeitgebers. Es solle ein Mindestmaß gesetzmäßigen Verhaltens des Arbeitgebers im Rahmen der betriebsverfassungsrechtlichen Ordnung sichergestellt und der Arbeitgeber zur Erfüllung seiner betriebsverfassungsrechtlichen Pflichten angehalten werden. Daher komme § 23 Abs. 3 bei groben Verstößen gegen § 102 Abs. 1 S. 1 und 2 in Betracht, um dessen Beachtung für die Zukunft zu erzwingen. Nach § 102 Abs. 1 BetrVG ist der Betriebsrat vor jeder Kündigung zu hören. Der Arbeitgeber hat ihm die Gründe für die Kündigung mitzuteilen. Eine ohne Anhörung des Betriebsrats ausgesprochene Kündigung ist unwirksam. Damit verknüpfe die Norm die dem Arbeitgeber nach § 102 Abs. 1 S. 1 und 2 BetrVG obliegenden betriebsverfassungsrechtlichen Pflichten mit der individualrechtlichen Sanktion, der Unwirksamkeit der ohne Anhörung des Betriebsrats ausgesprochenen Kündigung. Hieraus folge jedoch nicht, dass ein Verstoß gegen die Anhörungspflicht allein auf diese individualvertragliche Folge beschränkt sei. Vielmehr beinhalteten die Sätze 1 und 2 des § 102 BetrVG Verpflichtungen des Arbeitgebers gegenüber dem Betriebsrat im Sinne von § 23 Abs. 3 BetrVG. Diese Norm gewährt dem Betriebsrat ein eigenes Recht, die Unterlassung grober Verstöße gegen dieses Gesetz geltend zu machen. Durch die Beteiligung des Betriebsrats vor dem Ausspruch von Kündigungen solle dieser Gelegenheit erhalten, dem Arbeitgeber die Sicht und Überlegungen der Arbeitnehmerseite zum Kündigungsentschluss zur Kenntnis zu bringen, um ihm Gelegenheit zu geben, mögliche Bedenken zu Gunsten des Arbeitnehmers zu berücksichtigen. Die Norm gewährleiste damit die Wahrnehmung kollektiver Rechte des Betriebsrats vor der Ausübung individualvertraglicher Befugnisse des Arbeitgebers gegenüber Arbeitnehmern.

Ein grober Verstoß des Arbeitgebers im Sinne von § 23 Abs. 3 BetrVG sei bei einer objektiv erheblichen und offensichtlich schwerwiegenden Pflichtverletzung zu bejahen, auf ein Verschulden des Arbeitgebers komme es dabei nicht an. Eine grobe Pflichtverletzung indiziere die Wiederholungsgefahr. Diese sei nur dann ausgeschlossen, wenn aus faktischen oder rechtlichen Gründen eine Wiederholung des betriebsverfassungswidrigen Verhaltens ausscheidet. Die bloße Zusicherung, zukünftig betriebsvereinbarungswidriges Verhalten zu unterlassen, genüge hierfür hingegen nicht.

Danach liege im entschiedenen Fall ein grober Verstoß des Arbeitgebers gegen seine Verpflichtungen aus dem BetrVG vor.

Dies ergebe sich zum einen aus der Ende Februar 2019 gegenüber dem Mitarbeiter A ausgesprochenen Kündigung ohne vorherige Anhörung des Betriebsrats. Auch wenn dessen Rechtsbeistand im Rahmen von Aufhebungsverhandlungen um eine Arbeitgeberkündigung gebeten hatte, bleibe vor dem Ausspruch dieser „gewünschten“ Kündigung eine Betriebsratsanhörung erforderlich.

Hinzu komme der Ausspruch der sechs Kündigungen aus September 2020, für die offensichtlich eine Anhörung des Betriebsrats nach § 102 Abs. 1 BetrVG erforderlich gewesen sei. Dies stelle der Arbeitgeber auch nicht in Abrede, sondern berufe sich auf ein Versehen des Personalsachbearbeiters. Da der Personalsachbearbeiter die Kündigungen bewusst auf Anweisung des Personalleiters ausgestellt habe, sei eindeutig, dass insoweit eine objektiv erhebliche und offensichtlich schwerwiegende Pflichtverletzung vorliege. Dies gelte selbst dann, wenn man den Ausspruch der sechs Kündigungen zu einem einheitlichen Verstoß zusammenfasse. Maßgeblich sei der offentsichtliche Verstoß gegen § 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG beim Ausspruch von sechs Kündigungen ohne vorherige Anhörung des Betriebsrats. Der Personalsachbearbeiter hätte im Rahmen der von ihm vorzunehmenden Einzelfallbearbeitung ohne weiteres erkennen können, dass der Betriebsrat vor Ausspruch der Kündigungen anzuhören ist.

Der Verstoß sei auch objektiv erheblich gewesen, § 102 Abs. 1 BetrVG sei eines der wesentlichen Beteiligungsrechte des Betriebsrats. Die Pflichtverletzung sei schwerwiegend gewesen, denn der Betriebsrat habe seine kollektiven Rechte nicht zu Gunsten der von den Kündigungen betroffenen Arbeitnehmern gegenüber dem Arbeitgeber wahrnehmen können.

Die festgestellte grobe Pflichtverletzung indiziere die Wiederholungsgefahr. Faktische oder rechtliche Gründe, die eine Wiederholung des betriebsverfassungswidrigen Verhaltens ausschließen, lägen nicht vor. Im Gegenteil: Es könne jederzeit wieder vorkommen, dass der Personalsachbearbeiter vor dem Ausspruch von Kündigungen die Anhörung des Betriebsrats vergisst. Die Zusicherung, künftig betriebsverfassungswidriges Verhalten zu unterlassen, schließe die Wiederholungsgefahr nicht aus.

Hinweis für die Praxis

Die Entscheidung des LAG Hessen fußt auf – auch in der Entscheidung zitierter – gefestigter Rechtsprechung und überrascht daher nicht. Sie mag als Erinnerung verstanden werden, dass eine Kündigung „am Betriebsrat vorbei“ in zweierlei Hinsicht gefährlich ist. Denn eine unterbliebene jedoch erforderliche Betriebsratsanhörung vor einer Kündigung hat nicht nur deren Unwirksamkeit zur Folge, wenn der betreffende Arbeitnehmer diesen Unwirksamkeitsgrund rechtzeitig geltend macht, sondern kann zudem empfindliche Konsequenzen mit sich bringen, wenn der Betriebsrat einen entsprechenden Unterlassungsantrag stellt.

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