Dr. Christoph Fingerle, Fachanwalt für Arbeitsrecht

Tarifvertrag – Inbezugnahme – Ausschlussfrist – Teilnichtigkeit

Wenn ein Tarifvertrag in einem Arbeitsverhältnis insgesamt in Bezug genommen ist, das dem räumlichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich des Tarifvertrages unterfallen würde, und eine Ausschlussfristenregelung in diesem Tarifvertrag gegen gesetzliche Bestimmungen verstößt, ist dann die Ausschlussfristenregelung insgesamt unwirksam? Das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg (Urteil vom 10.08.2022, 10 Sa 94/21) hat diese Frage unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung verneint, ist nur von einer Teilunwirksamkeit der Regelung ausgegangen und hat zudem die Möglichkeit der ergänzenden Vertragsauslegung bejaht.

Sachverhalt

Dem Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die Klägerin war seit dem 1. Juni 1998 bei der Beklagten zunächst als Sekretärin/Assistentin des Vorstandes des Geschäftsbereichs Controls und seit dem 1. März 2005 zusätzlich als Marketingreferentin in Vollzeit beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis richtete sich zuletzt nach dem „Anstellungsvertrag für Tarifmitarbeiter/innen“ vom 2. August 2011. Unter 6. „Vertragsgrundlagen“ ist darin Folgendes vereinbart:

„Auf das Arbeitsverhältnis findet unabhängig von der Gewerkschaftszugehörigkeit des Mitarbeiters der Tarifvertrag für die Metall- und Elektroindustrie von Südwürttemberg-Hohenzollern in seiner jeweils gültigen Fassung Anwendung, so als wäre der Mitarbeiter selbst Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft. …“

Der Manteltarifvertrag für die Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie in Südwürttemberg - Hohenzollern (im Folgenden MTV) enthielt in der bis 31. Dezember 2021 geltenden Fassung in § 18 „Ausschlussfristen“ u.a. folgende Regelung:

„18.1 Ansprüche der Beschäftigten aus dem Arbeitsverhältnis sind dem Arbeitgeber gegenüber folgendermaßen geltend zu machen:

18.1.1 Ansprüche auf Zuschläge aller Art innerhalb von 2 Monaten nach Fälligkeit;

18.1.2 alle übrigen Ansprüche innerhalb von 6 Monaten nach Fälligkeit, spätestens jedoch innerhalb von 3 Monaten nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses.

18.1.3 Ansprüche, die nicht innerhalb dieser Frist geltend gemacht werden, sind verwirkt, es sei denn, dass der Beschäftigte durch unverschuldete Umstände nicht in der Lage war, diese Fristen einzuhalten.“

Nach Geburt der Kinder und Elternzeit der Klägerin wurden Gespräche über eine Teilzeittätigkeit geführt. Die Klägerin wurde jedoch letztlich durch Ergänzung zum Arbeitsvertrag als Assistentin der Werkleitung in Vollzeit beschäftigt.

Nach arbeitgeberseitigen Kündigungen wurde im Kündigungsschutzprozess ein Vergleich abgeschlossen, nach dessen Inhalt das Arbeitsverhältnis aufgrund ordentlicher Arbeitgeberkündigung mit Ablauf des 31.03.2019 gegen Zahlung einer Abfindung endete. Der Vergleich enthielt keine allgemeine Erledigungsklausel.

Am 07.01.2020, etwas mehr als neun Monate nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses, machte die Klägerin einen Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes gegenüber der Beklagten außergerichtlich geltend. Wegen der Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes und wegen Schädigung ihrer Gesundheit (Mobbing) stehe ihr ein Anspruch auf immateriellen Schadensersatz zu. Erst im Rahmen eines durchgeführten Coachings habe sie sich mit dem streitgegenständlichen Mobbing auseinandergesetzt. Sie habe das Verhalten der Beklagten bzw. der Vorgesetzten erst jetzt als Mobbing bzw. Bossing inhaltlich registriert und habe wahrgenommen, wie es sich auf sie ausgewirkt hätte. Der daraus entstandene und erlittene gesundheitliche Schaden hätte sich erst sukzessive, in jedem Fall jedoch nach Ablauf der Ausschlussfrist am 30. Juni 2019 in einem Zeitraum bis weit in die erste Jahreshälfte des Jahres 2020 manifestiert. Die Ausschlussfrist des MTV sei daher gewahrt. Sie sei unverschuldet nicht in der Lage gewesen, die tarifliche Ausschlussfrist zu wahren. Die Geltendmachung ihrer Schadensersatzansprüche habe sie aber unverzüglich nachgeholt.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin blieb ohne Erfolg.

Entscheidungsgründe

Der klägerseits geltend gemachte Anspruch folge nicht aus § 253 Abs. 2 BGB, weil das allgemeine Persönlichkeitsrecht in dieser Bestimmung nicht aufgeführt ist, sondern unmittelbar aus § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG. Stützt die Arbeitnehmerin zudem ihren Schadensersatzanspruch darauf, die Arbeitgeberin habe sie durch Mobbing an ihrer Gesundheit beschädigt, so kann sie nach § 253 Abs. 2 BGB u.a. eine billige Entschädigung in Geld fordern. Die Beklagte wäre der Klägerin zu diesem immateriellen Schadensersatz verpflichtet, wenn sie entweder arbeitsvertragliche Pflichten (§ 280 Abs. 1 i.V.m. § 241 Abs. 2 BGB) oder die Gesundheit der Klägerin, die ein besonders geschütztes Rechtsgut i.S.v. § 823 Abs. 1 BGB ist, verletzt hätte. Im Rahmen von §§ 278 Satz 1, 831 Satz 1 BGB müsse sich die Beklagte sowohl bei der Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als auch der Gesundheit das Verhalten von Erfüllungs- oder Verrichtungsgehilfen zurechnen lassen.

Soweit die Klägerin ihren Zahlungsanspruch auf die Verletzung ihres Persönlichkeitsrechts stützt, ist dieser Anspruch verfallen. Die Klägerin hat die Ausschlussfrist nach § 18.1.2 MTV nicht gewahrt. Auf fehlendes Verschulden kann sie sich nicht berufen (§ 18.1.3 MTV).

Die Ausschlussfristenregelung in § 18.1.2 MTV erfasse die von der Klägerin verfolgten Ansprüche auf immateriellen Schadenersatz. Erfasst würden mit Ausnahme der in § 18.1.1 MTV erfassten Zulangen „alle übrigen Ansprüche“. Welche Ansprüche gemeint sind, ergebe sich aus der Eingangsformulierung des § 18.1 MTV, wonach „Ansprüche der Beschäftigten aus dem Arbeitsverhältnis dem Arbeitgeber gegenüber“ in der sodann geregelten Weise geltend zu machen sind. Zu diesen Arbeitnehmeransprüchen gegenüber einem Arbeitgeber gehörten u.a. der Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld. Es fänden sich keine sachlichen Einschränkungen. Bei einer so weiten Regelung fielen unter den Begriff der „Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis“ alle gesetzlichen, tariflichen und vertraglichen Ansprüche, die Arbeitsvertragsparteien aufgrund ihrer durch den Arbeitsvertrag begründeten Rechtsstellung gegeneinander haben.

Die vertraglich in Bezug genommene Ausschlussfristenregelung in § 18 MTV verstoße nur teilweise gegen höherrangiges Recht. Die daraus folgende Teilnichtigkeit erfasse jedoch die von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche nicht. Eine Kontrolle der Ausschlussfristenregelung anhand der §§ 305 ff. BGB finde nicht statt.

§ 18.1.2 MTV sei entgegen der Auffassung der Klägerin auch nicht deshalb vollständig nichtig, weil ein Verstoß gegen § 202 Abs. 1 BGB vorliegt. Die Tarifnorm sei vielmehr nur insoweit nichtig, als sie mangels ausdrücklicher anderweitiger Regelung auch Ansprüche einbezieht, die durch vorsätzliches Handeln der Beklagten selbst verursacht worden sind – also ihrer Organe, da die Arbeitgeberin keine natürliche, sondern eine juristische Person ist. Im Übrigen bleibe sie aber wirksam. Deshalb sei die Ausschlussfristenregelung wirksam, soweit sie vorsätzliche Pflichtverletzungen der Erfüllungs- und Verrichtungsgehilfen der Beklagten erfasst (§ 278 Satz 2, § 831 Satz 1 i.V.m. § 276 Abs. 3 BGB), wie sie hier in Streit stehen. An ihrer früheren, entgegenstehenden Rechtsprechung halte die erkennende Kammer des Landesarbeitsgerichts nicht fest.

§ 18.1.2 MTV sei daher (nur) teilnichtig, soweit vorsätzliches Handeln der Beklagten erfasst ist. Dabei sei bei der Beklagten als juristischer Person auf das Handeln ihrer Organe abzustellen. Insoweit sei jedoch ein vorsätzliches Verhalten weder behauptet noch ersichtlich.

Die Ausschlussfrist des § 18.1.2 MTV erfasse nach der Auslegung des Tarifvertrages auch Ansprüche, die erst nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses fällig geworden sind. Die Ausschlussfrist beginne dann – entgegen dem insofern unvollständigen Wortlaut des § 18.1.2. MTV – nicht bereits mit dem Ende des Arbeitsverhältnisses zu laufen, sondern erst mit der Fälligkeit des Anspruchs.

Denkbare Ansprüche der Klägerin seien daher unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt verfallen.

Hinweis für die Praxis

Mit seinem Urteil ist das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Prüfung und Auslegung von tarifvertraglichen Ausschlussfristen, die über eine globale Verweisung im Arbeitsvertrag auf tarifliche Regelungen im räumlichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich Anwendung finden, gefolgt. Das Landesarbeitsgericht hat zudem – ebenfalls in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts – entschieden, dass in dieser Konstellation durch ergänzende Vertragsauslegung Regelungslücken zu schließen sind. Dies ist im Sinne einer einheitlichen und verlässlichen Rechtsprechung zu begrüßen.

Schließlich gibt der Sachverhalt erneut Anlass darauf hinzuweisen, dass arbeitsgerichtliche Vergleiche, die unter anderem die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum Gegenstand haben, wann immer möglich eine allgemeine Erledigungsklausel enthalten sollten.

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