Stefan Daub, Fachanwalt für Arbeitsrecht

Folgen eines Verstoßes gegen die Übermittlungspflicht im Massenentlassungsverfahren gem. § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens im Zusammenhang mit der Frage angerufen, welche Sanktion ein Verstoß gegen die Übermittlungspflicht gem. § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG nach sich zieht.

Sachverhalt

Dem Beschluss des BAG vom 27.01.2022 (6 AZR 155/21 (A)) liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Der Kläger wehrt sich gegen die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses.

Der Beklagte ist Insolvenzverwalter in einem am 01.10.2019 über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin eröffneten Insolvenzverfahren, bei der er bereits seit 1981 beschäftigt ist. Am 17.01.2020 wurde die vollständige Einstellung des Geschäftsbetriebs der Insolvenzschuldnerin zum 30.04.2020 beschlossen und in diesem Zusammenhang auch die Entlassung aller 195 zuletzt noch beschäftigter Arbeitnehmer. Aufgrund des Stilllegungsbeschlusses fanden mit dem Betriebsrat Verhandlungen über den Abschluss eines Interessenausgleichs sowie eines Sozialplans statt. In Verbindung mit dem Interessenausgleichsverfahren wurde auch das im Fall einer Massenentlassung erforderliche Konsultationsverfahren gem. § 17 Abs. 2 KSchG durchgeführt. Entgegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG, der Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie zu Massenentlassungen (MERL) in nationales Recht umsetzt, wurde jedoch der zuständigen Agentur für Arbeit keine Abschrift der das Konsultationsverfahren einleitenden und an den Betriebsrat gerichteten Mitteilung gem. § 17 Abs. 2 KSchG übermittelt.

Mit Schreiben vom 23.01.2020 wurde eine Massenentlassungsanzeige erstattet, deren Eingang die Agentur für Arbeit am 27.01.2020 bestätigte. Am 28.01.2020 erhielt der Kläger die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses zum 30.04.2020. Noch für den 28./29.01.2020 beraumte die Agentur für Arbeit Beratungsgespräche für 153 Arbeitnehmer der Insolvenzschuldnerin an.

Der Kläger hat sich auf den Standpunkt gestellt, die unterlassene Übermittlung der an den Betriebsrat gerichteten Mitteilung gem. § 17 Abs. 2 KSchG an die Agentur für Arbeit verstoße gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG, Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der MERL. Diese Regelungen enthielten nicht nur eine sanktionslose Nebenpflicht, sondern stellten eine Wirksamkeitsvoraussetzung für Kündigung dar. Die Übermittlungspflicht solle sicherstellen, dass die Agentur für Arbeit so früh wie möglich Kenntnis von den bevorstehenden Entlassungen erhalte, um ihre Vermittlungsbemühungen darauf einstellen zu können, sie habe daher auch einen die Arbeitnehmer schützenden Charakter.

Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Das LAG Niedersachsen hat ausgeführt, dass ein Verstoß gegen die Unterrichtungspflicht des § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG nicht zur Unwirksamkeit der streitbefangenen Kündigung führt.

Entscheidungsgründe

Der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts hat die Frage, ob der Verstoß zur Unwirksamkeit der Kündigung führte, nicht selbst entschieden, sondern den Gerichtshof der Europäischen Union ersucht, die Frage zu beantworten und gefragt, welchem Zweck die Übermittlungspflicht nach Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der MERL dient.

Von der Antwort hängt ab, ob auch § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG, der unionsrechtskonform in gleicher Weise wie Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der MERL auszulegen sei, eine den Arbeitnehmerschutz zumindest auch bezweckende Vorschriften im Massenentlassungsverfahren und als Verbotsgesetz gem. § 134 BGB anzusehen sei. In diesem Fall wäre die Kündigung unwirksam.

Hinweise für die Praxis

Eine Massenentlassung ist komplex und fehleranfällig, sie stellt alle Beteiligte auch in Nebenpunkten vor erhebliche Probleme. Da offen ist, wie der EuGH die Frage beantwortet, muss in der Praxis dringend darauf geachtet werden, auch die Unterrichtungspflicht gem. § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG weiterhin penibel und rechtzeitig zu beachten, unabhängig davon, ob das LAG Niedersachen der Ansicht war, zumindest eine Verletzung dieser Pflicht habe keine Folgen für eine ausgesprochene Kündigung.

Die Vorlage an den EuGH war zu erwarten und richtig. Es bleibt zu hoffen, dass der EuGH oder evtl. anschließend das BAG auch die Frage klären, wann genau diese Unterrichtung zu erfolgen hat. Die Beantwortung hängt mit der gestellten Frage zusammen, welchem Zweck diese europäische Regelung dient.

Die Zuleitung der Unterrichtung an die Arbeitsverwaltung hatte nach dem Willen des deutschen Gesetzgebers jedenfalls den Zweck, die Arbeitsverwaltung frühzeitig von den Massenentlassungen zu unterrichten. Eine frühzeitige Unterrichtung liegt nach derzeit h.M. nur vor, wenn sie vor der eigentlichen Massenentlassungsanzeige erfolgt. Die Unterrichtung gem. § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG sollte der Agentur für Arbeit früh und bereits im zeitlichen Zusammenhang mit der Einleitung des Konsultationsverfahrens zugeleitet werden.

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