Dr. Christoph Fingerle, Fachanwalt für Arbeitsrecht

Bewerbung, »Kennenlern-Praktikum«, Unfallversicherungsschutz

Wenn man sich auf einen Arbeitsplatz bewirbt, im Zuge dessen ein kurzes, unentgeltliches »Kennenlern-Praktikum« absolviert und dabei verunfallt, ist man dann unfallversichert? Das Bundessozialgericht hat dies nach den Satzungsbestimmungen der in einem konkreten Fall zuständigen Berufsgenossenschaft bejaht.

Sachverhalt

Dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 31 März 2022 (B 2 U 13/20 R) liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die arbeitsuchende Klägerin absolvierte bei einem Unternehmen ein unentgeltliches eintägiges „Kennenlern-Praktikum“ auf der Grundlage einer „Kennenlern-/Praktikums-Vereinbarung“ mit diesem Unternehmen. Während des „Kennenlern-Praktikums" fanden unter anderem Gespräche, eine Betriebsführung, ein fachlicher Austausch mit der IT-Abteilung und zum Abschluss die Besichtigung eines Hochregallagers statt. Bei der Besichtigung des Hochregallagers stürzte die Klägerin und brach sich den rechten Oberarm.

Nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII kann die Satzung der Berufsgenossenschaft bestimmen, dass und unter welchen Voraussetzungen sich die Versicherung auf Personen erstreckt, die sich auf der Unternehmensstätte aufhalten. Gemäß § 52 Abs. 1 lit. b der Satzung der zuständigen Berufsgenossenschaft (Holz und Metall) sind Personen, die nicht im Unternehmen beschäftigt sind, aber als Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Besichtigungen des Unternehmens die Stätte des Unternehmens im Auftrag oder mit Zustimmung des Unternehmens aufsuchen oder auf ihr verkehren, während ihres Aufenthalts auf der Stätte des Unternehmens gegen die ihnen hierbei zustoßenden Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten beitragsfrei versichert, soweit sie nicht schon nach anderen Vorschriften versichert sind (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII).

Die Beklagte Berufsgenossenschaft und die Vorinstanzen hatten der Klägerin den Versicherungsschutz versagt.

Entscheidungsgründe

Die Klägerin war vor dem Zweiten Senat des Bundessozialgerichts erfolgreich.

Anders als die beklagte Berufsgenossenschaft und die Vorinstanzen hat das Bundessozialgericht festgestellt, dass die Klägerin einen Arbeitsunfall erlitten hat. Die Klägerin war zum Zeitpunkt des Unfalles Teilnehmerin einer Unternehmensbesichtigung. Teilnehmer einer Unternehmensbesichtigung sind nach der Satzung der beklagten Berufsgenossenschaft – im Unterschied zu Satzungen anderer Unfallversicherungsträger – unfallversichert. Das eigene - unversicherte – Interesse der Klägerin am Kennenlernen des potenziellen zukünftigen Arbeitgebers steht dem Unfallversicherungsschutz kraft Satzung hier nicht entgegen. Die Satzungsregelung der Beklagten ist nicht auf Personen beschränkt, deren Aufenthalt im Unternehmen ausschließlich der Besichtigung dient. Unternehmer sollen vielmehr umfassend von Haftungsrisiken befreit werden, die durch erhöhte Gefahren bei Unternehmensbesuchen entstehen können.

Hinweis für die Praxis

Die Entscheidung betrifft den Einzelfall, konkret die Versicherung kraft Satzung in einer ganz bestimmten Berufsgenossenschaft. Die Frage des Unfallversicherungsschutzes für kurze und unentgeltliche »Schnupper-Praktika« ist jedoch generell von Bedeutung, dies sowohl für die Arbeitsplatzbewerber als auch die ausschreibenden Arbeitgeberunternehmen. Für letztere besteht nämlich sowohl nach den Grundsätzen des Verschuldens bei Vertragsschluss (culpa in contrahendo) als auch nach den Grundsätzen der Verkehrssicherungspflicht das Risiko, für Unfallschäden, die Arbeitsplatzbewerber in diesem Zusammenhang erleiden, persönlich in die Haftung genommen zu werden.

Daher empfiehlt sich vorab eine gründliche Prüfung, ob nach der Satzung der betrieblich zuständigen Berufsgenossenschaft Versicherungsschutz auch für Arbeitsplatzbewerber besteht. Falls dies im konkreten Einzelfall nicht so ist, sollte die privatrechtliche Versicherbarkeit dieses Risikos geprüft werden.

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