Stefan Daub, Fachanwalt für Arbeitsrecht

Beginn der Kündigungserklärungsfrist bei Compliance-Untersuchungen

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat entschieden, dass ein Arbeitgeber sich gem. § 242 BGB nicht auf die Wahrung der sog. Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB berufen kann, wenn er es zielgerichtet verhindert hat, dass eine für ihn kündigungsberechtigte Person bereits zu einem früheren Zeitpunkt Kenntnis von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen erlangte, oder wenn sonst eine Abwägung aller Umstände des Einzelfalls ergibt, dass sich die späte Kenntniserlangung einer kündigungsberechtigten Person als unredlich darstellt.

Sachverhalt

Dem Urteil des BAG (2 AZR 483/21 vom 05.05.2021) liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die Parteien stritten über die Wirksamkeit einer fristlosen und einer hilfsweise außerordentlich mit Auslauffrist erklärten Kündigung.

Die Arbeitgeberin ist tätig u.a. in den Bereichen Verteidigung und Raumfahrt und war mehrfach Auftragnehmerin der Bundeswehr bzw. des Bundesministeriums der Verteidigung. Sie hat ein „Legal & Compliance Department“ gebildet, das im Juli 2018 den Hinweis erhielt, dass Mitarbeitern ein behördeninternes Dokument des Bundesministeriums der Verteidigung zu einem zukünftigen Beschaffungsvorhaben mit dem Geheimhaltungsgrad „Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch (VS-NfD)“ vorliegt.

Nach Einholung rechtlichen Rats über potenzielle Unternehmensrisiken beauftragte die Arbeitgeberin im Oktober 2018 eine Rechtsanwaltskanzlei mit einer unternehmensinternen Untersuchung zur vollständigen Aufklärung des Sachverhalts. Am 27.06.2019 entschied das Compliance-Team, die interne Untersuchung zu unterbrechen und die bisherigen Untersuchungsergebnisse in einem Zwischenbericht für die Geschäftsführung aufzubereiten, um diesen in die Lage zu versetzen, über etwaige weitere, auch arbeitsrechtliche Maßnahmen zu entscheiden. Die Rechtsanwaltskanzlei stellte in der Folgezeit die ihrer Auffassung nach ermittelten Pflichtverletzungen des Klägers sowie weiterer 88 Personen in einem Zwischenbericht zusammen, der dem Geschäftsführer der Arbeitgeberin am 16.19.2019 übergeben wurde. Der Arbeitgeber kündigte nach Anhörung des Klägers und des Betriebsrats das Arbeitsverhältnis des Klägers mit Schreiben vom 27.09.2019, das dem Kläger am 28.09.2019 zuging.

Das Arbeitsgericht Ulm gab der Kündigungsschutzklage des Klägers statt. Das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg wies die Berufung zurück, weil die Kündigung nicht innerhalb der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB erklärt worden sei.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Arbeitgeberin beim BAG hatte Erfolg. Jedenfalls durfte diese nicht mit der Begründung des Landesarbeitsgerichts zurückgewiesen werden.

Das BAG hat klargestellt, dass es für den Beginn der Erklärungsfrist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB maßgeblich auf die Kenntnis von sämtlichen Tatsachen ankommt, die eine Entscheidung darüber erlauben, ob dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zugemutet werden kann oder nicht. Hierzu gehören sowohl die für als auch die gegen die Kündigung sprechenden Umstände, und das umfasst diejenigen Umstände, die das Gewicht einer Pflichtverletzung auch im Geflecht von weiteren, an einem Fehlverhalten beteiligten Arbeitnehmern betreffen.

Das BAG bestätigte seine Rechtsprechung, dass die Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB grundsätzlich erst dann beginnt, wenn ein Kündigungsberechtigter von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Bei einer juristischen Person gehören zu den Kündigungsberechtigten neben den Mitgliedern der Organe auch die Mitarbeiter, denen der Arbeitgeber das Recht zur außerordentlichen Kündigung übertragen hat. Die Kenntnis anderer Personen ist grundsätzlich unbeachtlich, auf die Kenntnis des Leiters der Compliance-Abteilung bereits zu einem früheren Zeitpunkt kam es deshalb nicht an – er war nicht zur Kündigung berechtigt.

Nach § 242 BGB und dem Grundsatz von Treu und Glauben kann sich ein Arbeitgeber auf die Wahrung der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB aber dann nicht berufen, wenn er selbst es zielgerichtet verhindert hat, dass eine für ihn kündigungsberechtigte Person bereits zu einem früheren Zeitpunkt Kenntnis von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen erlangte, oder sonst eine Abwägung aller Umstände des Einzelfalls ergibt, dass sich die spätere Kenntniserlangung einer kündigungsberechtigten Person als unredlich darstellt. Eine solche unzulässige Rechtsausübung setzt zumindest voraus, dass die Verspätung, mit der ein für den Arbeitgeber Kündigungsberechtigter Kenntnis erlangt, auf einer unsachgemäßen Organisation beruht, die sich als Verstoß gegen Treu und Glauben gem. § 242 BGB darstellt. Ausgehend davon, dass selbst grob fahrlässige Unkenntnis die Frist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB nicht in Gang setzt, begründet nicht schon jede Unkenntnis aufgrund eines Organisationsverschuldens eine unzulässige Rechtsausübung. Der Kündigungsberechtigte muss deshalb vielmehr den Informationsfluss zielgerichtet verhindert oder zumindest in einer mit Treu und Glauben nicht zu vereinbarenden Weise ein den Informationsfluss behinderndes sachwidriges und überflüssiges Organisationsrisiko geschaffen haben.

Zudem kommt ein missbräuchliches Berufen auf den späteren Zeitpunkt der Kenntnisnahme eines Kündigungsberechtigten nur in Betracht, wenn die nicht kündigungsberechtigte Person, die bereits früher Kenntnis erlangt hat, eine so herausgehobene Position und Funktion im Betrieb innehat, dass sie tatsächlich und rechtlich in der Lage ist, den Sachverhalt so umfassend zu klären, dass mit ihrem Bericht an den Kündigungsberechtigten dieser ohne weitere Nachforschungen seine (Kündigungs-)Entscheidung abgewogen treffen kann. Beide Voraussetzungen (ähnlich selbständige Stellung und treuwidriger Organisationsmangel in Bezug auf die Kenntniserlangung) müssen dann aber kumulativ vorliegen und müssen vom Gericht auch festgestellt werden.

Das BAG hat schließlich noch festgestellt, dass die Einrichtung einer Abteilung für Compliance sowie deren Beauftragung mit der Ermittlung möglicher Pflichtverstöße von Arbeitnehmern für sich genommen nicht unredlich, sondern sogar sachgerecht ist.

Weil das BAG über den eigentlichen Kündigungsgrund nicht entscheiden konnte, hat es den Rechtsstreit an das LAG Baden-Württemberg zurückgewiesen, das in der Sache neu entscheiden muss.

Hinweise für die Praxis

Das Urteil ist für die Praxis wichtig und bestätigt, dass auch eine längere Untersuchung eines komplexen Sachverhaltes durch eine Compliance-Abteilung für den Beginn der Kündigungserklärungsfrist unschädlich sein kann.

Die Kündigungserklärungsfrist war im entschiedenen Fall vor allem deshalb noch nicht abgelaufen, weil der Geschäftsführer als der Kündigungsberechtigte keine Kenntnis davon hatte – hätte er eine solche gehabt, hätte sich die Frage gestellt, ob die Aufklärung dann immer noch mit der notwendigen Eile durchgeführt wurde. So musste das BAG prüfen, ob und in welchen Fällen es treuwidrig sein kann, wenn sich ein Arbeitgeber darauf beruft, dass die Kündigungserklärungsfrist noch gewahrt ist, und hierzu fehlten Feststellungen durch das Landesarbeitsgericht.

Einen außerordentlichen Kündigungsgrund zur Überzeugung eines Arbeitsgerichts im Streit darzustellen, ist von ganz klaren Fällen abgesehen schwer genug – man könnte von einer gefahrgeneigten Arbeit für Rechtsanwälte sprechen. Wie der entschiedene Fall zeigt, ist ein Arbeitgeber deshalb immer gut beraten, wenn er sich nicht auch noch über die Frage streiten muss, ob die Kündigungserklärungsfrist bereits abgelaufen ist oder ein treuwidriges Berufen auf die Wahrung dieser Frist vorliegt. Die Untersuchung und Aufklärung durch eine Compliance-Abteilung kann dabei helfen und wird auch vom BAG als sachgerecht dargestellt. Zu viel Zeit sollte sich aber auch eine solche Abteilung nicht lassen, da das BAG mit der Entscheidung auch klargestellt hat, dass falls Ermittlungen nur noch Präventionszielen dienten, ein früherer Beginn der Zwei-Wochen-Frist in Betracht kommt.

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