Verfall des Rückzahlungsanspruchs bei überzahltem Entgelt bei Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall
Das BAG (31.03.2021 – 5 AZR 197/20) hat entschieden, dass den Arbeitgeber grundsätzlich keine Obliegenheit trifft, von sich aus Auskünfte über das Bestehen einer Fortsetzungserkrankung einzuholen, um gegebenenfalls im Anschluss gegenüber dem Arbeitnehmer einen Rückzahlungsanspruch wegen überzahlter Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall innerhalb geltender Ausschlussfristen beziffern zu können.
Sachverhalt
Dem Urteil des BAG liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die Parteien streiten über die Rückzahlung geleisteter Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Die Beklagte war von Dezember 2013 bis Dezember 2017 beim klagenden Land als Fachkraft für Schulsozialarbeit in Vollzeit beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis fand aufgrund arbeitsvertraglicher Inbezugnahme der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) Anwendung. Die Beklagte war Ende des Jahres 2016 sowie mehrere Wochen in der ersten Jahreshälfte des Jahres 2017 arbeitsunfähig erkrankt. Der Beklagten wurde mit Erstbescheinigung ihres behandelnden Arztes vom 11.04.2017 eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit vom 10.04.2017 bis 21.04.2017 und anschließend durch Folgebescheinigungen eine fortbestehende Arbeitsunfähigkeit bis zum 12.05.2017 attestiert. Das klagende Land zahlte der Beklagten Vergütung für die Zeit bis einschließlich 12.05.2017. Die Krankenkasse teilte der Beklagten mit Schreiben vom 12.10.2018 mit, dass sie aufgrund anzurechnender Vorerkrankungen vom 20.02.2017 bis zum 07.04.2017 vom Ende der Entgeltfortzahlung am 09.04.2017 ausgehe und sie der Beklagten für die Zeit vom 10.04.2017 bis zum 12.05.2017 Krankengeld nachzahlen werde. Mit Schreiben vom 07.12.2018 machte das klagende Land gegenüber der Beklagten die Rückzahlung gezahlter Bezüge in Höhe von Euro 3.538,77 geltend. Die Entgeltfortzahlung habe der Beklagten für die Zeit nach dem 09.04.2017 nicht zugestanden. Diese habe die gleichwohl in voller Höhe gezahlte Vergütung rechtsgrundlos erlangt. Die Beklagte machte geltend der Anspruch sei aufgrund der sechsmonatigen Ausschlussfrist des § 37 TV-L verfallen.
Das Arbeitsgericht Bielefeld wies die Klage ab. Das LAG Hamm hat die Berufung des klagenden Landes zurückgewiesen.
Entscheidungsgründe
Das BAG bejahte den Rückzahlungsanspruch aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB. Ein Entgeltfortzahlungsanspruch bestehe für den streitgegenständlichen Zeitraum nicht. Unstreitig habe in dieser Zeit eine Fortsetzungserkrankung vorgelegen, weshalb wegen Überschreitung der Krankheitsdauer von sechs Wochen eine Entgeltfortzahlung ausscheide. Der Rückzahlungsanspruch sei nicht ausgeschlossen. Nach § 37 Abs. 1 TV-L verfielen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis zwar, wenn sie nicht innerhalb einer Ausschlussfrist von sechs Monaten nach Fälligkeit von Beschäftigten oder vom Arbeitgeber schriftlich geltend gemacht würden. Nach Ansicht des BAG sei jedoch zu beachten, dass die Fälligkeit tariflicher Ausschlussfristen nicht ohne weiteres mit dem Entstehen des Anspruchs eintrete. Grundsätzlich gehe es bei Ausschlussfristen darum, im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit die kurzfristige Abwicklung offener Forderungen sicherzustellen. Der Anspruchsgegner solle sich innerhalb eines Zeitraums, in dem noch alles überschaubar sei, auf die aus Sicht des Anspruchstellers offene Forderungen einstellen, Beweise sichern und gegebenenfalls Rücklagen bilden können. Diese Zwecke geböten es nicht, im Rahmen des Begriffs der Fälligkeit von einer Erkundigungspflicht des Arbeitgebers auszugehen. Eine Obliegenheit des Arbeitgebers, immer dann wenn der Arbeitnehmer nach vorangegangener sechswöchiger Arbeitsunfähigkeit erneut arbeitsunfähig erkrankt sei, von sich aus „ins Blaue hinein“ Einkünfte über das Bestehen einer Fortsetzungserkrankung einzuholen, um gegebenenfalls im Anschluss einen Rückzahlungsanspruch gegenüber dem Arbeitnehmer innerhalb geltender Ausschlussfristen beziffern zu können, bestehe nicht. Dies auch deshalb, da der Arbeitnehmer selbst oftmals nicht rechtssicher beurteilen könne, ob die medizinischen und rechtlichen Voraussetzungen einer Fortsetzungserkrankung im entgeltfortzahlungsrechtlichen Sinne vorlägen. Daher würde eine Nachfrage beim Arbeitnehmer oftmals auch nicht zu einer verlässlichen Antwort führen. Die vom LAG insofern angenommene Nachfrageobliegenheit führe damit nicht zu mehr Rechtssicherheit, sondern belaste das Arbeitsverhältnis ohne triftigen Grund und sei insgesamt nicht interessengerecht. Eine Erkundigungsobliegenheit des Arbeitgebers zum Vorliegen einer Fortsetzungserkrankung könne allenfalls in Betracht kommen, wenn er Kenntnis von Umständen habe, aus denen sich konkrete Anhaltspunkte dafür ergäben, dass die neuerliche Krankheit des Arbeitnehmers auf denselben Krankheitsursachen wie eine vorausgehende Erkrankung beruhten, durch die der Entgeltfortzahlungszeitraum bereits erschöpft sei. Vor diesem Hintergrund sei der Rückzahlungsanspruch erst mit dem Zugang des Schreibens der Krankenkasse der Beklagten vom 12.10.2018 beim klagenden Land im Sinne von § 37 Abs. 1 Satz 1 TV-L fällig geworden. Bis zum Erhalt dieses Schreibens seien beim klagenden Land keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte dafür vorgelegen, dass die neuerliche Krankheit der Beklagten ab dem 10.04.2017 auf denselben Krankheitsursachen beruhte, wie die vorherigen.
Hinweis für die Praxis
Verfallfristen können individual- und tarifvertraglich vereinbart werden. Das BAG schafft nun im Hinblick auf unberechtigterweise gezahlter Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall Klarheit. Die Ausschlussfrist wird erst mit Kenntnis des Arbeitgebers von etwaigen der Entgeltfortzahlung entgegenstehenden Tatsachen in Gang gesetzt. Eine grundsätzliche Erkundigungspflicht des Arbeitgebers besteht nicht.
Wichtig ist hierbei jedoch, dass im Rahmen der Entgeltfortzahlung grundsätzlich eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit etwaiger Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen besteht. Zunächst muss der Arbeitnehmer darlegen, dass keine Fortsetzungserkrankung besteht. Hierfür kann eine ärztliche Bescheinigung vorlegt werden. Bestreitet sodann der Arbeitgeber, dass eine neue Erkrankung vorliegt, hat der Arbeitnehmer Tatsachen vortragen, die den Schluss erlauben, es habe keine Fortsetzungserkrankung bestanden. Hierzu hat der Arbeitnehmer den behandelnden Arzt von der Schweigepflicht zu entbinden. Ist auch dann immer noch eine Fortsetzungserkrankung nicht erweislich, hat der Arbeitgeber die Folgen entsprechend zu tragen (vgl. BAG 11.12.2019 – 5 AZR 505/18). Vor dem Hintergrund des ergangenen Urteils zu den Verfallfristen ist jedoch zu beachten, dass nach der Rechtsprechung des BAG ein einheitlicher Versicherungsfall regelmäßig bereits dann hinreichend indiziert ist, wenn zwischen einer „ersten“ krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit und einer dem Arbeitnehmer im Wege der „Erstbescheinigung“ attestierten weiteren Arbeitsunfähigkeit ein enger zeitlicher Zusammenhang besteht. Hiervon ist nach Ansicht des BAG auszugehen, wenn die bescheinigten Arbeitsverhinderungen zeitlich entweder unmittelbar aufeinanderfolgten oder zwischen ihnen lediglich ein für den erkrankten Arbeitnehmer arbeitsfreier Tag oder ein arbeitsfreies Wochenende liegt (vgl. so explizit BAG 11.12.2019 – 5 AZR 505/18).
In diesen Fällen dürfte daher besondere Vorsicht im Umgang mit etwaigen Ausschlussfristen geboten sein. Das BAG formuliert insofern lediglich: „Eine Erkundigungspflicht des Arbeitgebers zum Vorliegen einer Fortsetzungserkrankung könne allenfalls in Betracht kommen, wenn er Kenntnis von Umständen hat, aus denen sich konkrete Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die neuerliche Krankheit des Arbeitnehmers auf denselben Krankheitsursachen wie eine vorausgehende Erkrankung beruht, durch die den Entgeltfortzahlungszeitraum bereits erschöpft ist.“ Ob die o.g. hinreichende Indikation zeitlich eng aufeinander folgender Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen insofern bereits „konkrete Anhaltspunkte“ in diesem Sinne darstellen, ist offen.
10. September 2021