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Schwerbehinderung und Verfall von Urlaubsansprüchen

Das LAG Rheinland-Pfalz hat mit Urteil vom 22.04.2021 (Az. 2 Sa 59/20) entschieden, dass ein Arbeitgeber nicht verpflichtet ist, den schwerbehinderten Arbeitnehmer auf den Zusatzurlaub des § 208 Abs. 1 S. 1 SGB IX in Unkenntnis der Schwerbehinderteneigenschaft hinzuweisen mit der Folge, dass der Zusatzurlaubsanspruch nach § 7 Abs. 3 S. 1 BUrlG verfällt.

Sachverhalt

Der Kläger ist bei der Beklagten vollschichtig beschäftigt. In den ihm von der Beklagten für den jeweiligen Monat April der Jahre 2016, 2017, 2018 und 2019 erteilten Verdienstabrechnungen ist jeweils neben dem Urlaubsanspruch für das laufende Jahr auch ein "Rest"-Urlaubsanspruch ausgewiesen. Mit Bescheid vom 05.03.2019 wurde die Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers rückwirkend ab dem 11.08.2017 festgestellt. Diesen Bescheid legte der Kläger der Beklagten umgehend vor. Anfang April 2019 verlangte der Kläger von der Beklagten die Gewährung des Zusatzurlaubs für schwerbehinderte Menschen und stellte einen entsprechenden Urlaubsantrag. Daraufhin teilte die Beklagte mit, dass sein zusätzlicher Urlaub für schwerbehinderte Menschen für die Jahre 2017 und 2018 verfallen sei. Mit seiner Klage hat der Kläger die Feststellung begehrt, dass ihm für die Jahre 2017 und 2018 zusätzlicher Urlaub für schwerbehinderte Menschen von insgesamt 7 Tagen (anteilig 2 Tage aus dem Jahr 2017 und 5 Tage aus dem Jahr 2018) zustehe. Entgegen der I. Instanz hat das Berufungsgericht die Klage abgewiesen.

Entscheidungsgründe

Dem Kläger steht kein Zusatzurlaub nach § 208 Abs. 1 SGB IX für die Jahre 2017 und 2018 zu, weil dieser nach § 7 Abs. 3 S. 1 BUrlG mit Ablauf des jeweiligen Urlaubsjahres verfallen ist. Wird die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch rückwirkend festgestellt, finden nach § 208 Abs. 3 SGB IX auch für die Übertragung des Zusatzurlaubs in das nächste Kalenderjahr die dem Beschäftigungsverhältnis zugrundeliegenden urlaubsrechtlichen Regelungen Anwendung. Danach verfällt nicht genommener Zusatzurlaub auch im Falle der rückwirkenden Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft mit Ende des jeweiligen Urlaubsjahres, wenn er nicht nach den für das Beschäftigungsverhältnis geltenden Regelungen übertragen wurde. Dadurch soll eine Kumulation von Ansprüchen auf Zusatzurlaub aus vorangegangenen Urlaubsjahren ausgeschlossen werden.

Ein Übertragungstatbestand i.S.v. § 7 Abs. 3 S. 2 BUrlG liegt nicht vor, weil die Ungewissheit über das Bestehen der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch kein in der Person des Arbeitnehmers liegender Übertragungsgrund ist. Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts erlischt der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub (§§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG) bei einer mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG konformen Auslegung von § 7 BUrlG allerdings nur dann am Ende des Kalenderjahres (§ 7 Abs. 3 S. 1 BUrlG) oder eines zulässigen Übertragungszeitraumes (§ 7 Abs. 3 S. 2 und S. 4 BUrlG), wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat. Bei einem richtlinienkonformen Verständnis von § 7 Abs. 1 S. 1 BUrlG trifft den Arbeitgeber die Initiativlast bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs. Die Erfüllung der hieraus in richtlinienkonformer Auslegung abgeleiteten Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers ist grundsätzlich Voraussetzung für das Eingreifen des urlaubsrechtlichen Fristenregimes des § 7 Abs. 3 BUrlG (BAG v. 29.09.2020, 9 AZR 113/19).

Auch wenn danach die Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers nicht nur für den gesetzlichen Mindesturlaub, sondern grundsätzlich auch für den - nicht auf Unionsrecht beruhenden - Zusatzurlaubsanspruch aus § 208 Abs. 1 S. 1 SGB IX bestehen, gilt dies nach Auffassung des LAG Rheinland-Pfalz im Streitfall nicht, weil der Beklagten in den Urlaubsjahren 2017 und 2018 die erst später festgestellte Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers nicht bekannt war. Solange der Arbeitgeber nicht weiß, dass der Arbeitnehmer ein schwerbehinderter Mensch ist, besteht für ihn auch keine Verpflichtung, den Arbeitnehmer – gleichsam prophylaktisch – auf einen Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen hinzuweisen und diesen ggf. vorsorglich zu gewähren.

Die "Verfallsregeln" des Bundesurlaubsgesetzes können entgegen der Auffassung des Klägers auch nicht teleologisch dahingehend reduziert werden, dass sie nachträglich entstandene Zusatzurlaubsansprüche nicht umfassen. Vielmehr hat der Gesetzgeber durch die Regelung des § 208 Abs. 3 SGB IX klargestellt, dass die rückwirkende Feststellung der Schwerbehinderung nicht zur Folge haben soll, dass dem Arbeitnehmer in größerem Umfang aufgestaute Urlaubsansprüche zufallen sollen.

Das Berufungsgericht hat die Revision ausdrücklich zugelassen. Beim BAG ist die Sache unter dem Az: 9 AZR 367/21 anhängig.

Hinweise für die Praxis

Die urlaubsrechtliche Rechtsprechung befindet sich unverändert im Umbruch. Nach der jüngeren Rechtsprechung des BAG sollte es aus Arbeitgebersicht ausreichen, den Arbeitnehmer zu Beginn des Kalenderjahres in Textform (1) darüber zu unterrichten, wie viele Urlaubstage dem Arbeitnehmer im Kalenderjahr zustehen, (2) den Arbeitnehmer aufzufordern, Urlaub so rechtzeitig zu beantragen, dass er im Kalenderjahr verbraucht werden kann, und (3) den Arbeitnehmer über den möglichen Verfall des Urlaubsanspruchs zu informieren. Das LAG Rheinland-Pfalz musste sich nunmehr mit der weitergehenden Frage befassen, ob sich die Mitwirkungsobliegenheit des Arbeitgebers auch auf den Zusatzurlaubsanspruch des schwerbehinderten Arbeitnehmers selbst dann erstreckt, wenn dem Arbeitgeber die Schwerbehinderteneigenschaft gar nicht bekannt ist. Das Berufungsgericht hat diese Überlegung mit erfreulicher Klarheit verneint – es bleibt abzuwarten, ob das BAG diese Ansage bestätigt. Im Zweifel ist Arbeitgebern zu empfehlen, spätestens zum Jahresende jeden Mitarbeiter nachweisbar auf noch zu nehmenden Urlaub und den drohenden Verfall hinzuweisen sowie ggf. auch Zusatzurlaub abstrakt mit der Formulierung „Für den Fall dass Ihnen ein gesetzlicher Zusatzurlaub nach § 208 SGB IX zustehen sollte …“ zu berücksichtigen.

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