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Arbeitsrecht: Keine Mindestlohnpflicht für Pflichtpraktika von mehr als drei Monaten Dauer

Das Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz (LAG) hat mit Urteil vom 16.03.2021 (8 Sa 206/20) entschieden, dass Praktika, die nach der Zulassungsordnung einer Hochschule verpflichtende Voraussetzung der Studienzulassung sind, § 22 Abs. 1 S. 2 MiLoG unterfallen und deshalb auch dann nicht nach dem Mindestlohngesetz zu vergüten sind, wenn sie aufgrund der Zulassungsordnung länger als drei Monate andauern. Der weit gefasste Begriff der „hochschulrechtlichen Bestimmung“ in § 22 Abs. 1 S. 2 MiLoG umfasse auch die Zulassungsordnungen der Hochschulen.

Sachverhalt

Dem Urteil des LAG liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die Klägerin beabsichtigte, sich bei einer privaten Universität um einen Studienplatz im Fach Humanmedizin zu bewerben, wofür nach den Zugangsregelungen dieser Universität der Nachweis eines vor Studienbeginn absolvierten, sechsmonatigen Krankenpflegepraktikums erforderlich ist. Ein solches absolvierte die Klägerin in einer von der Beklagten betriebenen Klinik. Die Beklagte hatte der Klägerin zunächst ein dreimonatiges unentgeltliches Praktikum angeboten; die Klägerin bestand jedoch auf einem sechsmonatigen Praktikum mit dem Hinweis, nur ein solches Praktikum werde von der betreffenden Universität anerkannt. Den daraufhin von der Beklagten geforderten Nachweis der Universität, dass es sich bei dem gewünschten Praktikum um ein Pflichtpraktikum für die Aufnahme des Medizinstudiums handele, legte die Klägerin der Beklagten vor.

Anschließend wurde die Klägerin vom 20. Mai 2019 bis zum 29. November 2019 auf der Grundlage einer mündlichen Vereinbarung der Parteien als Praktikantin auf der Krankenpflegestation der Klinik tätig. Eine Vergütungsvereinbarung existierte nicht; im von der Klägerin ausgefüllten Personalbogen vom 15. Mai 2019 waren entsprechend die Eingabefelder für die Angaben zur Krankenkasse und einem Bankkonto durchgestrichen.

Mit ihrer Klage macht die Klägerin Lohnansprüche in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns nach dem Mindestlohngesetz sowie Urlaubsabgeltungsansprüche geltend. Das Arbeitsgericht Trier hat die Klage abgewiesen; auch die Berufung der Klägerin zum LAG blieb erfolglos.

Dabei war die Auslegung der Tatbestände von § 2 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und Nr. 2 MiLoG vorliegend die zentrale streitentscheidende Frage; § 2 Abs. 1 MiLoG lautet auszugsweise (Hervorhebungen durch den Verfasser):

„Dieses Gesetz gilt für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Praktikantinnen und Praktikanten im Sinne des § 26 des Berufsbildungsgesetzes gelten als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Sinne dieses Gesetzes, es sei denn, dass sie

1. ein Praktikum verpflichtend auf Grund einer schulrechtlichen Bestimmung, einer Ausbildungsordnung, einer hochschulrechtlichen Bestimmung oder im Rahmen einer Ausbildung an einer gesetzlich geregelten Berufsakademie leisten,

2. ein Praktikum von bis zu drei Monaten zur Orientierung für eine Berufsausbildung oder für die Aufnahme eines Studiums leisten,

3. (…)“

Entscheidungsgründe

Das LAG ist der Auffassung, mangels vertraglicher Vergütungsvereinbarung stünden der Klägerin keine Vergütungs- und Urlaubsabgeltungsansprüche zu. Denn ein Anspruch auf Praktikumsvergütung aus § 1 Abs. 1 MiLoG scheide aus, da diese Norm gemäß § 2 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 MiLoG auf Pflichtpraktika wie das im entschiedenen Fall unstreitig vorliegende nicht anwendbar sei. Dies gelte auch bei Pflichtpraktika von mehr als drei Monaten Dauer als Zulassungsvoraussetzung einer privaten Hochschule. Denn auch solche fielen nicht unter § 2 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 MiLoG, der die dreimonatige Grenze enthält.

Dies ergebe die Auslegung der genannten Normen anhand des darin zum Ausdruck kommenden objektivierten Willens des Gesetzgebers, wie er sich aus dem Wortlaut und dem Sinnzusammenhang ergebe, wobei auch Systematik, Sinn und Zweck sowie Entstehungsgeschichte zu berücksichtigen seien.

Gemessen an diesen, von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs konkretisierten Grundsätzen, unterfalle das Pflichtpraktikum der Klägerin der Ausnahmeregelung in § 22 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 MiLoG (Hervorhebung durch den Verfasser). Der Begriff der „hochschulrechtlichen Bestimmung“ im Sinne der vorgenannten Vorschrift sei schon seinem Wortlaut nach weit gefasst; die Formulierung „Bestimmung“ sei der Oberbegriff für abstrakt-generelle Regelungen und auch für vertragliche Vereinbarungen. Eine Unterscheidung nach öffentlicher oder privater Trägerschaft der Hochschule lasse sich dem Gesetz hierbei nicht entnehmen.

Auch die Gesetzesmaterialien sprächen für ein solches weites Begriffsverständnis, da sich der Gesetzgeber im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens bewusst dafür entschieden habe, diesen Begriff zu verwenden und eben nicht den engeren Begriff der „Studienordnung“.

Dem Gesetzeswortlaut ließen sich auch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass eine „hochschulrechtliche Bestimmung“ nur dann vorliege, wenn man bereits als Student an der Hochschule eingeschrieben sei. Auch Vorgaben in Zulassungsordnungen, die erfüllt werden müssen, um die Zulassung zu erreichen, seien für die Studienbewerber „verpflichtend“.

Bestätigt werde dies durch die systematische Auslegung. Es bestünden keine Regelüberschneidungen, sondern § 22 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 MiLoG betreffe (nur) sog. Orientierungspraktika, und zwar zur Orientierung für eine Berufsausbildung oder zur Orientierung für die Aufnahme eines Studiums; § 22 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 MiLoG betreffe demgegenüber Pflichtpraktika. Lediglich für die bloßen Orientierungspraktika, die nicht zugleich Zulassungsvoraussetzung einer Hochschule sind, sei vom Gesetzgeber zur Vermeidung von Missbrauch eine Begrenzung auf drei Monate vorgesehen.

Dies gelte nicht für Pflichtpraktika, da sie für die Berufswahl des Praktikanten als Zulassungsvoraussetzung notwendig seien. Die Suche nach einem Praktikumsplatz und damit die Berufswahlfreiheit würden beeinträchtigt, wenn man eine Vergütungspflicht für Pflichtpraktika von mehr als drei Monaten Dauer sehen wolle, was § 22 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 MiLoG ganz offensichtlich nicht bezwecke.

Auch aus dem BBiG und dem Bundesurlaubsgesetz könne kein Zahlungsanspruch der Klägerin abgeleitet werden, weil Pflichtpraktika wie das vorliegende grundsätzlich nicht unter § 26 BBiG fielen; sie seien nach der Zulassungsordnung der Hochschule vom Studienbewerber vorab selbst beizubringender Bestandteil der Ausbildung. Eine andere Bewertung führe zu Wertungswidersprüchen mit der Vorschrift des § 22 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 MiLoG.

Hinweis für die Praxis

Die Entscheidung des LAG Rheinland-Pfalz enthält eine schulmäßige Gesetzesauslegung und überzeugt. Mit Spannung darf erwartet werden, ob das Bundesarbeitsgericht sie bestätigen wird – das LAG hat die Revision zugelassen, weil die vorliegend entscheidungserhebliche Frage von grundsätzlicher Bedeutung sei. Jedenfalls solange diese Rechtsfrage nicht eindeutig vom BAG entschieden ist, ist Praktikumsgebern, die eine Vergütungspflicht vermeiden möchten, zu raten, nach Möglichkeit maximal dreimonatige Praktika anzubieten und sich vor Abschluss einer Praktikumsvereinbarung und Aufnahme eines Praktikums zumindest einen Nachweis vorlegen zu lassen, dass es sich um ein Pflichtpraktikum handelt.

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