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Berufliche Fortbildung als Arbeitszeit

Der EuGH hat mit Urteil vom 28.10.2021 (C-909/19) entschieden, dass Zeiten, in denen ein Arbeitnehmer eine ihm von seinem Arbeitgeber vorgeschriebene berufliche Fortbildung absolviert, die außerhalb seines gewöhnlichen Arbeitsorts in den Räumlichkeiten des Fortbildungsdienstleisters stattfindet und während der er nicht seinen gewöhnlichen Aufgaben nachgeht, Arbeitszeit iSv. Art. 2 Nr. 1 RL 2003/88 („Arbeitszeitrichtlinie“) ist.

Sachverhalt

Dem Urteil des EuGH liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Der Kläger ist bei der Gemeindeverwaltung einer rumänischen Stadt als „Leiter der Abteilung Prävention (Feuerwehr)" in Vollzeit beschäftigt. Aufgrund entsprechender Verwaltungsvorschriften war der Kläger zur Teilnahme an einer Fortbildungsveranstaltung von 160 Stunden Dauer verpflichtet. Diese hatte er aufgrund der Anmeldung seines Dienstherrn Monaten März und April 2017 bei einem externen Dienstleister in dessen Räumlichkeiten vollständig absolviert. Die Fortbildung fand montags bis freitags von 15 Uhr bis 20 Uhr, samstags von 13 Uhr bis 18 Uhr und sonntags von 13 Uhr bis 19 Uhr statt. Letztlich lagen 124 Stunden Fortbildung außerhalb der normalen Arbeitszeit des Klägers, der bei dem zuständigen Gericht Klage auf Vergütung dieser Stunden als Überstunden erhob. Nachdem die Klage abgewiesen worden war und der Kläger Berufung eingelegt hatte, legte das Berufungsgericht den Rechtsstreit dem EuGH u.a. mit der Frage vor, ob Art. 2 Nr. 1 der RL 2003/88 dahin auszulegen sei, dass die Zeit, in der ein Arbeitnehmer nach dem Ende der normalen Arbeitszeit am Sitz des Fortbildungsdienstleisters außerhalb seines Arbeitsorts und ohne Erfüllung von Dienstaufgaben vorgeschriebene Fortbildungskurse besucht, „Arbeitszeit“ darstellt.

Entscheidungsgründe

Art. 2 Nr. 1 der RL 2003/88 definiert den Begriff „Arbeitszeit“ als „jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt“. In Art. 2 Nr. 2 dieser Richtlinie wird der Begriff „Ruhezeit“ negativ definiert als jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit. Die Begriffe „Arbeitszeit“ und „Ruhezeit“ schließen einander somit aus. Die Zeit der beruflichen Fortbildung eines Arbeitnehmers ist daher für die Zwecke der Anwendung der RL 2003/88 entweder als „Arbeitszeit“ oder als „Ruhezeit“ einzustufen, da die Richtlinie keine Zwischenkategorie vorsieht. Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass es für das Vorliegen der charakteristischen Merkmale des Begriffs „Arbeitszeit“ im Sinne der RL 2003/88 entscheidend ist, dass der Arbeitnehmer persönlich an dem vom Arbeitgeber bestimmten Ort anwesend sein und ihm zur Verfügung stehen muss, um gegebenenfalls sofort seine Leistungen erbringen zu können. Sofern der Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber die Anweisung erhält, eine berufliche Fortbildung zu absolvieren, um die von ihm wahrgenommenen Aufgaben ausüben zu können, ist davon auszugehen, dass dieser Arbeitnehmer während der Zeiten der beruflichen Fortbildung seinem Arbeitgeber im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der RL 2003/88 zur Verfügung steht. Dieser Einschätzung steht nicht entgegen, dass sich die Verpflichtung aus nationalen Rechtsvorschriften ergibt, da die berufliche Fortbildung für den Mitarbeiter erforderlich und die beklagte Gemeinde verpflichtet war, die Teilnahme an dieser Fortbildung vorzuschreiben. Gleichermaßen unerheblich ist der Umstand, dass die Zeiten der beruflichen Fortbildung ganz oder teilweise außerhalb der normalen Arbeitszeit liegen, da die RL 2003/88 für die Zwecke des Begriffs „Arbeitszeit“ nicht danach unterscheidet, ob diese Zeit in der normalen Arbeitszeit liegt oder nicht. Dementsprechend ändert der Umstand, dass die berufliche Fortbildung nicht am gewöhnlichen Arbeitsort des Arbeitnehmers stattfindet, sondern in den Räumlichkeiten des Unternehmens, das die Fortbildungsdienstleistungen erbringt, nichts daran, dass der Arbeitnehmer gezwungen ist, sich an dem vom Arbeitgeber bestimmten Ort aufzuhalten, und hindert folglich nicht daran, die Zeiten der in Rede stehenden beruflichen Fortbildung als „Arbeitszeit“ im Sinne der RL 2003/88 einzustufen. Schließlich steht auch der Umstand, dass sich die Tätigkeit, die ein Arbeitnehmer während der Zeiten der beruflichen Fortbildung ausübt, von der Tätigkeit unterscheidet, die er im Rahmen seiner gewöhnlichen Aufgaben ausübt, dem nicht entgegen, dass diese Zeiten als Arbeitszeit eingestuft werden, wenn die berufliche Fortbildung auf Veranlassung des Arbeitgebers absolviert wird und der Arbeitnehmer folglich im Rahmen dieser Fortbildung dessen Weisungen unterliegt.

Hinweis für die Praxis

Der EuGH bezieht zum wiederholten Male zu arbeitszeitrechtlichen Fragen eines Vorabentscheidungsersuchens Stellung, dessen Ausgangsrechtsstreit eine Vergütungsklage ist, wenngleich ihm das Fehlen der Kompetenz der EU für Fragen des Arbeitsentgelts (vgl. Art. 153 Abs. 5 AEUV) durchaus bewusst ist. Ungeachtet dessen verwirft er die Vorlage gleichwohl nicht durch Beschluss als unstatthaft. Der EuGH konstatiert vielmehr, im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits hänge die Frage des Arbeitsentgelts für die Zeiten der beruflichen Fortbildung von der Einstufung dieser Zeiten als „Arbeitszeit“ oder „Ruhezeit“ im Sinne der Arbeitszeitrichtlinie mit der Konsequenz ab, die zur Einstufung gestellten Fragen beantworten zu müssen. Damit bleibt der EuGH auf der Linie seiner Rechtsprechung, die davon geprägt ist, dass die Beurteilung, ob die Vorlegefrage entscheidungserheblich ist, allein bei dem mitgliedstaatlichen Gericht liegt und der EuGH selbst nur in krassen Ausnahmefällen die Nichterheblichkeit der Vorlagefrage annimmt.

Die Entscheidung des EuGH in der Sache ist – jedenfalls aus der deutschen Perspektive – wenig überraschend. Ausgehend vom überkommenen Begriff der Arbeitszeit als „jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt“, zählt in Deutschland die Teilnahme an einer vom Arbeitgeber veranlassten – nicht hingegen die freiwillige – Fortbildung zur im Grundsatz vergütungspflichtigen Arbeitszeit, sofern in einem Arbeits- oder Tarifvertrag keine gesonderte Vergütungsregelung für eine andere als die eigentliche Tätigkeit vereinbart wurde (BAG, Beschluss vom 23.10.2018, 1 ABR 26/17, NZA 2019, 486).

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