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Arbeitnehmer dürfen „die Bullen rufen“ bei einem möglichen Verstoß des Arbeitgebers gegen Quarantänebestimmungen

Erstattet ein Arbeitnehmer Anzeige, weil der Geschäftsführer und der Vorgesetzte möglicherweise widerrechtlich eine Corona-Quarantäne-Zone verlassen haben, um zur Arbeitsstätte zu gelangen, rechtfertigt das nicht eine außerordentlich fristlose, hilfsweise ordentliche Kündigung. So entschied es jedenfalls das Arbeitsgericht Dessau-Roßlau (Arbeitsgericht Dessau-Roßlau, Urteil. v. 12.08.2020 – 1 Ca 65/20).

Sachverhalt

Der Kläger ist bei der Beklagten als Konstruktionsmechaniker/Bohrwerksdreher beschäftigt. Der Landkreis Wittenberg erließ am 20.03.2020 eine Allgemeinverfügung zum Schutz bzw. zur Verhinderung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 in den Ortsteilen C-Stadt und Schweinitz nach dem Infektionsschutzgesetz. Danach war die gesamte Bevölkerung der Ortsteile C-Stadt und Schweinitz, die sich innerhalb der letzten 14 Tage dort aufgehalten hatten, verpflichtet, den direkten Kontakt mit anderen Personen außerhalb der häuslichen Gemeinschaft einzustellen und sich ausschließlich in ihrer Wohnung bzw. auf dem eigenen Wohngrundstück aufzuhalten, wovon nur Berufstätige mit Arbeitsort innerhalb der Ortsteile C-Stadt und Schweinitz an ihrem Arbeitsplatz und auf dem Weg zur Arbeit ausgenommen waren. Ein Verlassen der Ortsteile war – mit Ausnahme eines in der Allgemeinverfügung besonders genannten Personenkreises – untersagt.

Der Geschäftsführer der Beklagten und der dem Kläger vorgesetzte Meister wohnen innerhalb dieser Quarantänezone. Der Betrieb der Beklagten befindet sich aber außerhalb der Quarantänezone. Trotzdem erschienen der Geschäftsführer und der Meister im Betrieb.

Nachdem der Kläger den Meister bemerkt hatte, erkundigte sich dieser in erheblicher Sorge vor einer Infektion mit COVID-19 telefonisch bei der zuständigen Polizeidienststelle, ob das Verlassen der Quarantänezone für den Meister und den Geschäftsführer unter den gegeben Umständen zulässig sei. Der Meister, der Teile des Gesprächs aufgeschnappt hatte, sprach den Kläger darauf an und fragte, ob er bei der Polizei „Anzeige erstattet“ habe. Der Kläger erklärte wenig später: „Natürlich habe ich die Bullen angerufen. … Ich muss mich ja schützen. … Sollte ich mich infiziert haben, können Sie sich frisch machen und Herr B. auch.“ Nach einem hitzigen Gespräch verließ der Meister den Betrieb. Auch der Geschäftsführer führte anschließend ein streitiges Gespräch mit dem Kläger, nach dessen Ende beide ihre Arbeit im Betrieb fortsetzten.

Nachdem am nächsten Arbeitstag der Geschäftsführer der Beklagten erneut im Betrieb anwesend war, verließ der Kläger das Betriebsgelände und legte eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für die kommenden 14 Tage vor. Am gleichen Tag noch sendete der Kläger eine E-Mail an den Landkreis und teilte diesem den Sachverhalt mit. Es wurde daraufhin ein Ermittlungsverfahren seitens der Polizei gegen den Geschäftsführer und den Vorgesetzten des Klägers eingeleitet. Nachdem der Geschäftsführer davon erfuhr, hörte er den Kläger in einem persönlichen Gespräch an und kündigte diesem kurz darauf das Arbeitsverhältnis außerordentlich fristlos, hilfsweise fristgemäß zum nächst möglichen Termin.

Entscheidungsgründe

Das Arbeitsgericht der Dessau-Roßlau entschied, dass das Verhalten des Klägers weder eine außerordentliche fristlose, noch eine ordentliche fristgemäße Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertige. Die Nachfrage bei der Polizei sowie die Information des Landkreises Wittenberg und die Einholung einer Rechtsauskunft über den Umfang der Quarantänebestimmungen stellten nach Auffassung des Gerichts keine unverhältnismäßige Reaktion des Klägers auf das Verhalten des Geschäftsführers und des Vorgesetzten dar. Dem Kläger sei es aus Sicht der Kammer nicht darum gegangen, den Betrieb der Beklagten zu schädigen und den Geschäftsführer einer strafrechtlichen Verfolgung auszusetzen. Sein Ziel sei es vielmehr gewesen, aus Gründen des Infektionsschutzes die sich aus der Allgemeinverfügung des Landkreises Wittenberg ergebenden Quarantänebestimmungen durchzusetzen. Der Kläger sei auch nicht verpflichtet gewesen, zunächst innerbetrieblich weiter auf den Geschäftsführer und den Meister einzuwirken, um diese zur Einhaltung der Quarantänebestimmungen zu bewegen, da es vorliegend nicht um einen innerbetrieblichen Missstand sondern um eine mögliche Verletzung der Allgemeinverfügung als allgemein öffentlich-rechtliche Regelung ging.

Hinweise für die Praxis

Mit den rechtlich angeordneten Corona-Schutzmaßnahmen ist auch seitens der Arbeitgeber und Führungskräfte sorgfältig und ordnungsgemäß umzugehen. Arbeitnehmer, die sich im Falle möglicher Nichteinhaltung der Vorschriften direkt an die Polizei und Ordnungsbehörden wenden, ohne vorher im Betrieb die Einhaltung der Maßnahmen zu fordern, können arbeitsrechtlich in der Regel nicht sanktioniert werden. Es empfiehlt sich daher für den Arbeitgeber, stets offen mit der Einhaltung und Umsetzung von Corona-Schutzmaßnahmen und -Beschränkungen nicht nur im Hinblick auf die Mitarbeiter, sondern auch in Bezug auf sich selbst umzugehen.

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