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Keine Leistungen nach Tarifvertrag aufgrund betrieblicher Übung bei vermeintlicher Zahlungspflicht

Erbringt der Arbeitgeber eine Leistung an den Arbeitnehmer erkennbar aufgrund einer anderen Rechtspflicht, kann der Arbeitnehmer nicht davon ausgehen, ihm ist, unabhängig von dieser Rechtspflicht, eine Leistung auf Dauer aufgrund betrieblicher Übung zu gewähren.

Sachverhalt

Die Parteien stritten über die Höhe des Arbeitsentgelts und in diesem Zusammenhang über die Frage, ob die Beklagte nach dem zwischen ihr und der Gewerkschaft ver.di am 31.01.2006 abgeschlossenen Haustarifvertrag (Haus-TV) für die Beschäftigten des A-Klinikums oder aufgrund betrieblicher Übung verpflichtet ist, an die Klägerin dynamische Entgeltsteigerungen entsprechend den Entgelttabellen des TVöD weiterzugeben.

Der auf das Arbeitsverhältnis Anwendung findende Haus-TV nimmt unter § 2 den TVöD vom 13.09.2005 in Bezug. In einer von den Tarifvertragsparteien unterzeichneten Protokollerklärung zum Haus-TV vom 31.01.2006 erklärten die Tarifvertragsparteien, dass sie gewillt seien, bei neuen Entwicklungen der betrieblichen Bedingungen, der gesetzlichen oder tarifvertraglichen Regelungen, die den Haus-TV berühren, unverzüglich Verhandlungen über etwaige Veränderungen aufzunehmen. Anlage 1 des Haus-TV bilden drei Blätter, die jew. eine „Tabelle TVöD“ mit Bemessungsgrundsätzen ab 01.03.2006, 01.07.2006 und 01.07.2007 enthalten. Die Beklagte gab im Zeitraum von 2008 bis August 2013 die für den TVöD vereinbarten Entgelterhöhungen an die Klägerin weiter. Die in den Tarifeinigungen enthaltenen Entgelterhöhungen von 3%, mindestens aber 90 Euro ab März 2014 sowie weitere 2,4% ab März 2015 gab die Beklagte jedoch nicht an die Klägerin weiter. Mit Schreiben vom 25.05.2014 verlangte die Klägerin erfolglos von der Beklagten die Weitergabe dieser tariflichen Entgelterhöhungen und klagte diese schließlich ein. Die Klägerin vertrat die Auffassung, der Haus-TV enthalte eine dynamische Bezugnahme auf die Entgeltregelung des TVöD. Daher sei die Beklagte verpflichtet, entsprechend Tariferhöhungen weiterzugeben. Im Übrigen ergebe sich der Anspruch aus betrieblicher Übung. Nach Ansicht der Beklagten enthalte der Haus-TV lediglich eine statische Geltung der Entgelttabellen. Aus der Weitergabe der Entgeltsteigerungen in der Vergangenheit begründe sich keine betriebliche Übung. Sie habe sich irrtümlich zu diesen Zahlungen tarifvertraglich für verpflichtet gehalten. Das Arbeitsgericht Magdeburg wies die Klage ab. Auf Berufung der Klägerin hat das LAG Sachsen-Anhalt das erstinstanzliche Urteil abgeändert und der Klage stattgegeben.

Entscheidung

Die Revision der Beklagten vor dem BAG hatte Erfolg (Urteil vom 19.02.20202 – 5 AZR 189/18). Das BAG wies die Berufung zurück. Diese sei in Bezug auf den Zahlungsanspruch aus dem Haus-TV mangels ausreichender Begründung bereits unzulässig. Ferner könne aus betrieblicher Übung kein Anspruch auf die begehrten Entgelterhöhungen hergeleitet werden. Das BAG stellte zunächst klar, dass dann, wenn in der Berufungsbegründung zu einem von mehreren Streitgegenständen eine Begründung fehle, das Rechtsmittel insoweit unzulässig sei. Etwas anderes gelte nur dann, wenn die Begründetheit des Anspruchs denknotwendig von der des anderen abhänge. Diesen Anforderungen genüge die Berufungsbegründung der Klägerin nur in Bezug auf den Streitgegenstand des Zahlungsanspruchs aus betrieblicher Übung. Das bloße Bestreiten im Übrigen, dass der Tarifvertrag eine statische Festlegung der Entgelte enthalte, stelle keine inhaltliche Kritik der Tarifauslegung des Arbeitsgerichtes dar. Ein Anspruch aus betrieblicher Übung wiederum liege nicht vor. Unter dieser sei die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers zu verstehen, aus denen die Arbeitnehmer schließen könnten, ihnen solle eine Leistung oder eine Vergünstigung auf Dauer eingeräumt werden. Erbringe der Arbeitgeber die Leistung für den Arbeitnehmer erkennbar aufgrund einer anderen Rechtspflicht, könne der Arbeitnehmer nicht davon ausgehen, ihm solle, unabhängig von dieser Rechtspflicht, eine Leistung auf Dauer gewährt werden. Bei einer selbst bei über Jahre gleichbleibender Gehaltserhöhungspraxis sei dies nur gegeben, wenn deutliche Anhaltspunkte erkennbar seien, dass er die Erhöhung auch ohne Bestehen einer Verpflichtung künftig auf Dauer erfolgen soll. Die Darlegungslast liege insofern bei der Klägerin. Erst dann, wenn sie darlegen könne, dass das Verhalten des Arbeitgebers aus Sicht des Empfängers ausreichende Anhaltspunkte dafür biete, der Arbeitgeber wolle die Zahlung erbringen, ohne hierzu bereits aufgrund eines Tarifvertrags oder einer Betriebsvereinbarung verpflichtet zu sein, sei es Sache des Arbeitgebers, dem durch geeigneten Vortrag entgegenzutreten. Vorliegend bestehe insofern kein Anspruch der Klägerin auf die begehrte Tarifsteigerung, da die Beklagte sich hinsichtlich der Tariferhöhungen in den Jahren 2008 bis 2013 aufgrund der Regelung des Haus-TV verpflichtet fühlte. Voraussetzung für die Begründung einer betrieblichen Übung sei jedoch, dass die Beklagte in positiver Kenntnis einer anderweitig fehlenden Verpflichtung gezahlt hätte. Aus Sicht der Beklagten habe sich die Leistungsgewährung lediglich als Normvollzug des Haus-TV dargestellt. Dies könne nicht als stillschweigendes Angebot einer vertraglichen Verpflichtung aufgefasst werden.

Praxishinweise

Das BAG macht zunächst den Sorgfaltsmaßstab, der an eine Berufungsbegründung anzulegen ist, deutlich. Der bloße unsubstantiierte Vortrag, man halte die erstinstanzliche Entscheidung für falsch, ohne sich inhaltlich mit dem „Warum“ auseinanderzusetzen, reicht nicht aus. Daneben knüpft das BAG an seine Rechtsprechung zur betrieblichen Übung an. Erforderlich ist ein autonomer Verpflichtungswille des Arbeitgebers. Der bloße – wenn auch rechtsirrige – Normvollzug genügt jedoch nicht (vgl. etwa BAG vom 17.03.2010 – 5 AZR 317/09, DB 2010 S. 1406). Dies ist konsequent, weil anderenfalls der Arbeitgeber in jeder Fallkonstellation zur Fortgewährung entsprechender Vergünstigungen verpflichtet wäre: Entweder wäre er durch Tarifvertrag gebunden oder bei irrtümlich angenommenen Normvollzug in der betrieblichen Übung gefangen.

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