Dr. Christoph Fingerle, Fachanwalt für Arbeitsrecht

Einwilligung des Arbeitnehmers schließt Missbrauch befristeter Arbeitsverhältnisse nicht aus

Mit Urteil vom 19.03.2020 hat der EuGH in zwei verbundenen Rechtssachen (C-103/18 und C-429/18, Sánchez Ruiz und Fernández Álvarez u. a. / Comunidad de Madrid (Servicio Madrileño de Salud)) entschieden, dass die Mitgliedstaaten den Fall eines Arbeitnehmers, dessen befristete Vertretungsstelle implizit von Jahr zu Jahr verlängert wurde, nicht vom Begriff "aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverhältnisse", so wie er in der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge verwendet wird, ausnehmen dürften. Vielmehr könne die Verlängerung nur bei einem auch Sachgründen beruhenden vorübergehenden Bedarf gerechtfertigt werden. Der Schutz des Arbeitnehmers vor einer Kettenbefristung entfalle auch nicht durch seine Zustimmung zur Begründung aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverhältnisse.

Sachverhalt

Im Gesundheitsdienst der Comunidad de Madrid (Gemeinschaft Madrid, Spanien) wurde das Auswahlverfahren für die Besetzung mehrerer freier Stellen nicht durchgeführt. Stattdessen wurden die Tätigkeiten kontinuierlich von denselben Personen über mehrere Jahre hinweg auf Grundlage jeweils befristeter Arbeitsverträge verrichtet, die von Jahr zu Jahr implizit verlängert wurden. Die Betroffenen beantragten schließlich bei der Comunidad de Madrid, als festangestelltes statutarisches Personal oder, hilfsweise, als öffentliche Bedienstete mit einem ähnlichen Status anerkannt zu werden. Gegen die Ablehnung klagten sie vor spanischen Verwaltungsgerichten. Diese legten dem EuGH eine Reihe von Fragen zur Vorabentscheidung vor, die insbesondere die Auslegung der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge als Anhang zur Richtlinie 1999/70/EG betreffen.

Entscheidungsgründe

Nach Entscheidung des europäischen Gerichtshofs darf die zugrunde liegende Sachverhaltskonstellation bei der lediglich ein befristeter Vertrag vorliegt, der implizit verlängert wird, nicht vom Begriff "aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge " im Sinne der Rahmenvereinbarung ausgenommen werden. Auch diese Arbeitsverhältnisse unterfallen daher dem Schutz der Rahmenvereinbarung durch das. Bei der Festlegung, unter welchen Voraussetzungen Arbeitsverträge als "aufeinanderfolgend" angesehen werden, sei das Ziel der Vereinbarung, Arbeitnehmer vor missbräuchlichen Befristungen zu schützen, einzuhalten. Der Zweck sowie die praktische Wirksamkeit dieser Vereinbarung seien zu gewährleisten. Um den Schutz der Arbeitnehmer nicht auszuhöhlen, dürfe daher nicht eine große Zahl befristeter Arbeitsverhältnisse vom Anwendungsbereich der Rahmenvereinbarung dadurch ausgeschlossen werden, weil formell nur ein befristeter Vertrag vorlag.

Außerdem könnten zwar sachliche Gründe aufeinanderfolgende Verlängerungen befristeter Arbeitsverträge rechtfertigen. Eine Verlängerung könne aber nicht allein deswegen gerechtfertigt sein, weil ein Bedarf für die Befristung lediglich formell behauptet wird. Dadurch bestünde das Risiko, dass Arbeitgeber ihren ständigen und permanenten Arbeitskräftebedarf mit befristeten Verträgen deckten, und nicht einen bloß zeitweiligen Bedarf. Aufgrund des Spielraums, den die Richtlinie den Staaten bei der Gewährung des Schutzes lässt, bliebe die Überprüfung, ob nationale Maßnahmen zur Verhinderung und Ahndung von Missbräuchen durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge geeignet sind, aber den nationalen Gerichten überlassen.

Schließlich lasse bei einem missbräuchlichen Rückgriff auf aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverhältnisse die Zustimmung des Beschäftigten zu der Befristung deren missbräuchlichen Charakter nicht entfallen. Das Ziel der Rahmenvereinbarung, den wiederholten Rückgriff auf befristete Arbeitsverträge zu begrenzen, beruhe auf der Prämisse, dass der Arbeitnehmer wegen seiner gegenüber dem Arbeitgeber schwächeren Position Opfer eines Missbrauchs aufeinanderfolgender Befristungen werden könne, auch wenn er der Verlängerung solcher Arbeitsverhältnisse zugestimmt habe. Er sei deshalb auch nicht gehindert, seine Rechte gegenüber seinem Arbeitgeber geltend zu machen. Die Rechtfertigung einer Befristung allein durch das Einverständnis des Arbeitnehmers sei auch nicht im Wortlaut der Rahmenvereinbarung vorgesehen. Vielmehr würde der Rahmenvereinbarung jede praktische Wirksamkeit genommen, wenn befristet Beschäftigte ihren Schutz allein durch die Zustimmung zur wiederholten Befristung verlören.

Allerdings verpflichte das Unionsrecht ein nationales Gericht nicht dazu, eine nationale Regelung, die nicht mit der Rahmenvereinbarung im Einklang stehe, unangewendet zu lassen. Denn die Rahmenvereinbarung habe keine unmittelbare Wirkung. Allerdings hätten die nationalen Gerichte bei der Auslegung und Anwendung der Vorschrift den »effet utile« des EU-Rechts zu berücksichtigen.

Hinweis für die Praxis

Auch wenn dem Urteil des EuGH ein spanischer Sachverhalt zugrunde lag, bindet es in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden. Daher gilt auch weiterhin, dass die aufeinanderfolgende Befristung von Arbeitsverträgen den strengen Vorgaben des EU-Rechts gerecht werden muss, damit Arbeitnehmer nicht über Jahre hinweg in unsicheren Verhältnissen beschäftigt werden. Allerdings bietet das deutsche Recht das von den spanischen Behörden vermeintlich ausgemachte Schlupfloch, dass bei impliziter Verlängerung keine aufeinanderfolgenden Verträge vorliegen würden, von vornherein nicht, da ohne Einhaltung der Schriftform des § 14 Abs. 4 TzBfG die erneute Befristung nicht wirksam ist.

Dass die bloße Mitwirkung des Arbeitnehmers an der Vereinbarung einer (weiteren) Befristung deren eventuelle Missbräuchlichkeit nicht entfallen lässt, ist zwingend, weil ansonsten eine Rechtskontrolle von Befristungsvereinbarungen auf Missbräuchlichkeit hin per se ausgeschlossen wäre. Zwar können nach § 14 Abs. 1 Nr. 6 TzBfG in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe die Befristung rechtfertigen. Darunter fällt insbesondere die Konstellation, dass die Befristung auf ausdrücklichen Wunsch des Arbeitnehmers erfolgt. Daran und insbesondere an den Beweis dieses Sachverhalts werden hohe Anforderungen gestellt, was durch das Urteil des europäischen Gerichtshofs unterstrichen wird.

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