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Unglücksfälle am Bahnsteig – Haftungsrechtliche Fragen

Immer wieder werden Menschen von einem Zug erfasst und schwer verletzt oder gar getötet. In den meisten Fällen handelt es sich um ein Unglück, das niemand zu verantworten hat. In jüngster Zeit mehren sich aber Meldungen über sog. „Bahn-Schubser“. In Frankfurt/Main, Voerde, Essen und anderswo. Neben den menschlichen, politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen gibt es auch eine rechtliche Dimension: die Frage nach der Haftung.

Wer haftet für derartige Tragödien, wenn unterstellt wird, dass der Schädiger (Täter) nicht (zumindest nicht hinreichend) solvent sein wird, und auch eine etwaige Haftpflichtversicherung des Schädigers nicht eintrittspflichtig sein dürfte, da sich diese in derartigen Fällen wohl regelmäßig auf Leistungsfreiheit (wegen des sog. Vorsatzausschlusses) berufen kann? Auch der Triebfahrzeugführer als potentieller Ersatzpflichtiger scheidet wohl eher aus, da anzunehmen sein wird, dass er – selbst bei frühzeitigem Erkennen der Situation – aufgrund des Bremswegs und der fehlenden Ausweichmöglichkeit kaum in der Lage gewesen sein dürfte, einen Zusammenstoß tatsächlich noch zu verhindern. Im Gegenteil, der Triebfahrzeugführer ist in diesen Konstellationen nicht Täter, sondern  ebenfalls Opfer. Denn regelmäßig folgt auch für ihn eine starke psychische Belastung, die unter Umständen sogar eine jahrelange Beeinträchtigung mit Krankheitswert zur Folge haben kann.

Es verbleibt dann allein der Bahnbetriebsunternehmer, der nach § 1 HaftpflichtG grundsätzlich für Schäden, die bei „Betrieb der Bahn“ entstehen, an sich sogar verschuldensunabhängig einzustehen hat, sofern der Schaden nicht auf „höhere Gewalt“ zurückzuführen ist. „Höhere Gewalt“ im Sinne des § 1 HaftpflichtG wiederum ist jedes betriebsfremdes, von außen durch elementare Naturkräfte oder durch Handlungen dritter Personen herbeigeführtes Ereignis, das nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbar ist, mit wirtschaftlich erträglichen Mittel auch durch äußerste nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht werden kann und auch nicht wegen seiner Häufigkeit vom Betriebsunternehmer in Kauf zu nehmen ist. Oder anders gewendet: Es muss sich um eine Einwirkung von außen handeln, die außergewöhnlich und nicht abwendbar ist. Alle drei Voraussetzungen müssen erfüllt sein, wenn höhere Gewalt vorliegen soll. Die beiden erstgenannten Voraussetzungen (also Einwirkung von außen und Außergewöhnlichkeit) sind im Fall der sog. „Bahn-Schubser“ sicherlich anzunehmen, fraglich ist letztlich allein, ob auch „Unabwendbarkeit“ zu bejahen ist. Unabwendbar ist ein Ereignis (nur), wenn es mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch „durch die äußerste nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet“ werden kann. Absolute Unvermeidbarkeit wird nicht gefordert, sondern – schon nach einer Formel des Reichsgerichts – nur das, „was menschlicher Kraft und Vorsicht nicht spottet“.

Dass der Betriebsunternehmer die im Verkehr erforderliche Sorgfaltbeachtet hat, d. h. nicht schuldhaft gehandelt hat, reicht also nicht aus. Der Unternehmer hat vielmehr darzulegen und zu beweisen, dass auch bei Aufbietung der äußersten Sorgfalt der Unfall nicht hätte abgewendet werden können. Die von ihm hiernach anzuwendenden Mittel müssen dem Stand der Technik und der allgemeinen Verkehrsanschauung entsprechen. Sie können sogar über das hinausgehen, was die Aufsichtsbehörde angeordnet oder zugelassen hat. Die in Betracht kommenden Maßnahmen müssen lediglich technisch möglich und wirtschaftlich tragbar bzw. „dem Unternehmer vernünftigerweise zuzumuten“sein. Die Mittel müssen sich also noch innerhalb der Grenzen der wirtschaftlichen Existenzmöglichkeiten des Unternehmens halten.

Bereits in der Vergangenheit wurden wiederholt Forderungen gestellt, die Bahnkörper durch Errichtung von Mauern und Bretterzäunen abzuschirmen oder mit Wächtern zu besetzen, um ein Befahren oder Betreten unmöglich zu machen. Dies wurde in der Rechtsprechung bislang noch abgelehnt. Es fragt sich aber, ob insoweit nicht langsam ein Umdenken nötig ist. Denn dass es auch anders gehen kann, zeigen Beispiele gerade in den asiatischen Metropolen wie etwa in Singapur oder Hong Kong. Die Bahnsteige der unterirdischen MRT-Haltestellen in Singapur etwa sind mit Wänden und automatischen Türen ausgestattet, so dass niemand auf die Gleise stürzen kann. Sicherheit und Ordnung werden dort ganz großgeschrieben. Ähnlich verhält es sich in Hong Kong. Zwar lässt sich dagegen natürlich anführen, dass aufgrund der dortigen Verhältnisse, bei denen oftmals tausende Menschen auf einmal in einen Zug bzw. eine U-Bahn drängen, eine gänzlich andere, ungleich gefährlichere Ausgangssituation, schon wegen des Massenandrangs, vorliegt, die mit den hiesigen Verhältnissen schon nicht vergleichbar ist, vielmehr weitergehende Schutzmaßnahmen erforderlich macht. Dies ist natürlich nicht falsch. Gleichwohl würde hierbei aber verkannt, dass es bei der Frage, ob „höhere Gewalt“ anzunehmen ist oder nicht, auf derartige Erwägungen letztlich gar nicht entscheidend ankommt, sondern maßgeblich darauf, ob die in Betracht kommende Abhilfemaßnahme technisch möglich und innerhalb der Grenzen der wirtschaftlichen Existenzmöglichkeiten des Unternehmens noch tragbar erscheint. Und dass dem so sein könnte, dafür könnten gerade diese Beispiele streiten. Die weitere Entwicklung bleibt also abzuwarten.

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