Stefan Daub, Fachanwalt für Arbeitsrecht

Dringender Verdacht einer Pflichtverletzung und ordentliche Kündigung

Die arbeitsrechtliche Verdachtskündigung ist an keiner Stelle im Gesetz geregelt – der dringende Verdacht kann nach der Rechtsprechung gleichwohl Kündigungsgrund sein.

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mit Urteil vom 31.01.2019 (2 AZR 426/18) bestätigt, dass der Verdacht einer Pflichtverletzung gegenüber dem verhaltensbezogenen Vorwurf, der Arbeitnehmer habe die Pflichtverletzung tatsächlich begangen, einen eigenständigen Kündigungsgrund darstellt und eine hierauf gestützte Kündigung nicht nur eine „unterentwickelte Tatkündigung“ ist. Es handelt sich stets um eine personenbedingte Kündigung. Ein Verdacht kann dabei auch eine ordentliche Kündigung bedingen; die Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB gilt nur für außerordentliche Kündigungen.

Sachverhalt

Die Beklagte produziert Kraftfahrzeuge. Der als schwerbehinderter Mensch anerkannte Kläger war seit 1996 bei ihr beschäftigt. Die Beklagte stellte dem Kläger einen Pkw nebst Tankkarte auch zur privaten Nutzung zur Verfügung. Der Kraftstofftank des Wagens wies nach Angaben der Beklagten als Herstellerin ein Volumen von 93 Litern auf.

Zwischen Februar 2012 und Januar 2013 setzte der Kläger 89 Mal seine Tankkarte ein. Dabei tankte er in 14 Fällen mehr als 93 Liter, darunter am 05.11.2012 (Montag) 99,7 Liter, am 25.11.2012 (Sonntag) 101,38 Liter, am 28.12.2012 (Freitag) 101,17 Liter und am 19.01.2013 (Samstag) 99,61 Liter. Insgesamt 11 der 14 Betankungen mit einem Volumen von mehr als 93 Litern fanden an Wochenenden, Feiertagen oder während des Urlaubs des Klägers statt. 88 der 89 Betankungen erfolgten nicht an internen Tankstellen der Beklagten, sondern an Fremdtankstellen. In 8 Fällen wurde der Dienstwagen an ein und demselben Tag bei der Beklagten gewaschen, aber extern betankt. Der Kläger trug u.a. vor, er habe ausschließlich seinen Dienstwagen auf Kosten der Beklagten betankt, dessen Tank fasse deutlich mehr als 93 Liter und ein Sachverständiger habe ausweislich eines vom ihm eingeholten Privatgutachtens ein Nachfolgemodell gleicher Bauart und gleichen Typs mit 102,42 Litern befüllen können.

Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis erstmals bereits am 13.08.2013 außerordentlich, hilfsweise ordentlich. Mit Schreiben vom selben Tag hörte sie den arbeitsunfähig erkrankten Kläger u.a. zu dem Verdacht an, er habe mit der ihm überlassenen Tankkarte Treibstoff nicht nur für seinen Dienstwagen erworben. Nachdem sie von der zwischenzeitlich festgestellten Schwerbehinderung des Klägers erfahren hatte, beantragte die Beklagte die behördliche Zustimmung zu einer weiteren außerordentlichen und einer erneuten ordentlichen Kündigung. Nach Zustimmung des Integrationsamts kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Schreiben vom 26.09.2013 nochmals außerordentlich sowie mit Schreiben vom 28.10.2013 hilfsweise ordentlich. Das BAG befand mit Urteil vom 22.09.2016 alle Kündigungen mangels Zustimmung des Integrationsamts oder wegen unzureichender Anhörung des Betriebsrats für unwirksam.

Auf Antrag der Beklagten vom 28.07.2016 erteilte das Integrationsamt die Zustimmung zu einer weiteren ordentlichen Tat- und Verdachtskündigung. Nach Anhörung des Betriebsrates kündigte die Beklagte am 15.12.2016 das Arbeitsverhältnis der Parteien erneut ordentlich zum 30.06.2017.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat der Berufung der Beklagten teilweise entsprochen und den Kündigungsschutzantrag abgewiesen.

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers hatte vor dem Zweiten Senat des BAG keinen Erfolg, die ordentliche Kündigung war wirksam.

Nach der Rechtsprechung stellt der Verdacht einer Pflichtverletzung gegenüber dem verhaltensbezogenen Vorwurf, ein Arbeitnehmer habe die Pflichtverletzung tatsächlich begangen, einen eigenständigen Kündigungsgrund dar. Der durch den Verdacht bedingte Eignungsmangel stelle einen Kündigungsgrund in der Person des Arbeitnehmers dar, auch wenn die den Verdacht und den daraus folgenden Vertrauensverlust begründenden Umstände nicht unmittelbar mit seiner Person zusammenhängen müssen. Die Betriebsgröße oder die Unterscheidung zwischen einem „normalen“ Arbeitsverhältnis und einem solchen mit besonderer Vertrauensstellung seien keine tauglichen Kriterien, um die grundsätzliche Zulässigkeit einer Verdachtskündigung zu beurteilen.

Das BAG stellt zudem klar, dass die Verdachtskündigung „keine unterentwickelte Tatkündigung“ i.S.d. Absenkung des erforderlichen Beweismaßes sei. Vielmehr unterscheide sich der materiellrechtliche Bezugspunkt der richterlichen Überzeugungsbildung: Bei einer Tatkündigung müsse das Gericht davon überzeugt sein, der Arbeitnehmer habe eine kündigungsrelevante Pflichtverletzung begangen; die diese Würdigung tragenden (Indiz-)Tatsachen müssen entweder unstreitig oder bewiesen sein. Hingegen müsse das Gericht bei einer Verdachtskündigung mit dem erforderlichen Grad an Gewissheit zu der Überzeugung gelangen, der Arbeitnehmer weise aufgrund des Verdachts einer schwerwiegenden Pflichtverletzung einen Eignungsmangel auf; dazu müssen die den Verdacht begründenden (Indiz-)Tatsachen ihrerseits unstreitig sein oder vom Arbeitgeber „voll“ bewiesen werden.

Eine ordentliche Verdachtskündigung ist aber nur dann durch den bloßen Verdacht pflichtwidrigen Verhaltens i.S.v. § 1 KSchG aus Gründen in der Person des Arbeitnehmers „bedingt“, wenn das Verhalten, dessen der Arbeitnehmer verdächtig ist, wäre es erwiesen, sogar eine sofortige Beendigung des Arbeitsverhältnisses gerechtfertigt hätte. Für die ordentliche Kündigung gelte dabei anders als für eine außerordentliche Verdachtskündigung zwar nicht die starre Frist des § 626 Abs. 2 BGB, innerhalb derer der Arbeitgeber das Recht zur ordentlichen Verdachtskündigung ausüben müsste. Ein längeres Abwarten kann aber zu der Annahme berechtigen, die Kündigung sei nicht i.S.v. § 1 KSchG durch den Verlust des vertragsnotwendigen Vertrauens „bedingt“. Ein Arbeitgeber dürfe jedenfalls einen Kündigungsgrund nicht über längere Zeit „auf Vorrat“ halten.

Das BAG hat ausgehend von einer maximalen Betankungsmenge von 102,42 Litern bei vollständig entleertem Kraftstoffsystem die Wertung des Landesarbeitsgericht bestätigt, es bestehe die hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger zumindest am 05.11.2012 (99,7 Liter), am 25.11.2012 (101,38 Liter), am 28.12.2012 (101,17 Liter) und am 19.01.2013 (99,61 Liter) nicht nur seinen Dienstwagen auf Kosten der Beklagten befüllt habe. Der Kläger habe weder erklärt, dass er immer wieder mit der Gefahr des Liegenbleibens gespielt habe, noch angegeben, dass und ggf. warum es in dem vergleichsweise kurzen Zeitraum vom 05.11.2012 bis zum 19.01.2013 viermal notwendig gewesen sei, die im Tank befindliche Kraftstoffmenge fast vollständig auszunutzen. Das BAG hat die Verwertung der von der Beklagten ermittelten Inhalte der Datei „Tankbelege.xls“ mit ausführlicher Begründung auch als datenschutzkonform angesehen.

Das BAG stellte schließlich fest, dass das mögliche Verhalten des Klägers „an sich“ auch geeignet sei, einen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB zu bilden. Verschaffe sich ein Arbeitnehmer vorsätzlich auf Kosten des Arbeitgebers einen ihm nicht zustehenden Vermögensvorteil, verletze er seine Pflicht zur Rücksichtnahme erheblich (§ 241 Abs. 2 BGB). Eine solche Pflichtverletzung komme typischerweise als Grund für eine außerordentliche Kündigung in Betracht, und zwar unabhängig von der strafrechtlichen Bewertung und der Höhe eines dem Arbeitgeber durch die Pflichtverletzung entstandenen Schadens.

Hinweise für die Praxis

Das BAG hat mit dieser Entscheidung klargestellt, dass eine Verdachtskündigung immer eine personenbedingte Kündigung ist.

Auch wenn ein Arbeitgeber die sehr kurze Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB nicht beachtet oder zuvor, wie im entschiedenen Fall, (mehrere) unwirksame außerordentliche Kündigungen ausgesprochen hat, kann er evtl. noch ordentlich kündigen. Er muss sich aber beeilen, da auch das Recht zur ordentlichen Kündigung verwirken kann, wenn der Arbeitnehmer darauf vertrauen darf, ein Arbeitgeber werde das Arbeitsverhältnis wegen des Vorwurfs nicht mehr ordentlich kündigen. Das BAG hat in der Entscheidung angedeutet, dass der Einwand der Verwirkung unter § 6 KSchG fallen kann, weshalb Arbeitnehmer auch diesen Einwand, wenn er in Betracht kommt, bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in der ersten Instanz erheben sollten.

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