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Das Easy-Software-Urteil: Verjährungsbeginn und Selbstbezichtigung in der Organhaftung

Seit dem „ARAG/Garmenbeck“-Urteil des BGH steht fest, dass der Aufsichtsrat einer AG verpflichtet ist, etwaige Schadensersatzansprüche gegen Vorstandsmitglieder zu prüfen und – bei entsprechender Erfolgsaussicht – auch geltend zu machen (Urt. v. 21.04.1997, II ZR 175/95). In der nun ergangenen „Easy-Software“-Entscheidung (Urt. v. 18.09.2018, II ZR 152/17) hat der II. Zivilsenat diese Rechtsprechung bestätigt und sich darüber hinaus zu zwei damit oft einhergehenden Fragen geäußert: Wann beginnt die Verjährung von Schadensersatzansprüchen gegen Aufsichtsratsmitglieder für pflichtwidriges Verjährenlassen von Ansprüchen gegen Mitglieder des Vorstands? Und kann sich der Aufsichtsrat gegen seine eigene Haftung mit dem Einwand verteidigen, er hätte im Rahmen der Verfolgung von Ansprüchen gegen den Vorstand eigene (Aufsichts-) Pflichtverletzungen offenbaren müssen?

1. Verjährungsbeginn erst bei Verjährung der Ansprüche gegen den Vorstand

Im entschiedenen Fall hat der Aufsichtsrat vom Vorstand der Gesellschaft Zahlungen erhalten, bei denen der Verdacht einer verbotenen Einlagenrückgewähr im Raum stand. Knapp zehn Jahre später forderte die (börsennotierte) Gesellschaft nun Schadensersatz von dem betreffenden Aufsichtsratsmitglied. Aufgrund der großen Zeitspanne kam nur noch ein Verstoß gegen seine Pflichten als Aufsichtsrat nach den ARAG/Garmenbeck-Grundsätzen in Betracht, d.h. das Bestehen von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegenüber einem Vorstandsmitglied zu prüfen und bei deren Vorliegen auch zu verfolgen. Entscheidend war also, wann die Verjährung für einen Verstoß gegen diese sog. Regelverfolgungspflicht beginnt: Mit der ursprünglichen Pflichtverletzung des Vorstands (Zahlung an den Aufsichtsrat) oder erst wenn die Ansprüche der Gesellschaft gegen den Vorstand wegen Eintritt der Verjährung nicht mehr durchsetzbar sind.

Der BGH hat sich für die zweite Alternative entschieden. Die Verjährung des Schadensersatzanspruchs gegen das Aufsichtsratsmitglied richte sich nach §§ 116 S. 1, 93 Abs. 6 AktG und beginne nach allgemeinen Grundsätzen gem. § 200 S. 1 BGB mit der Entstehung des Anspruchs. Liege die Pflichtverletzung – wie hier – in einem fortdauernden Unterlassen, sei für die Bestimmung des Verjährungsbeginns danach zu differenzieren, ob das Unterlassen als einheitliche Dauerhandlung zu betrachten ist oder es sich um mehrere, sich wiederholende neue Eingriffe handele. Bei einer einheitlichen Dauerhandlung könne die Verjährung nicht beginnen, solange der Eingriff noch andauere. Bei mehreren sich wiederholenden Unterlassungen beginne die Verjährung dagegen für jeden in Folge der Unterlassung eintretenden Schaden gesondert. Daraus folgt für den konkreten Fall (und allgemein bei Missachtung der ARAG/Garmenbeck-Grundsätze):

  • Bei Annahme einer einheitlichen Dauerhandlung ist diese erst mit dem Eintritt der Verjährung der Ersatzansprüche gegen den Vorstand beendet, so dass die Verjährung von Ansprüchen gegen den Aufsichtsrat erst mit Verjährung der Ersatzansprüche gegen den Vorstand beginnen kann.
  • Bei Annahme sich wiederholender Unterlassungen gilt bei dem Vorwurf der Verletzung der Regelverfolgungspflicht indes das Gleiche, weil der geltend gemachte Schaden dem Grunde nach erst mit dem Verstreichenlassen der letzten Möglichkeit zur Inanspruchnahme des Vorstands entstanden ist. Bis zu diesem Zeitpunkt hätte der Beklagte den Eintritt des Schadens durch verjährungshemmende Maßnahmen i.S.v. § 200 S.1 BGB noch abwenden können.

Vor diesem Hintergrund hat der Senat offen gelassen, in welche der beiden Kategorien das Verhalten des beklagten Aufsichtsrats fällt. Für den Beginn der Verjährung sei jedenfalls nicht auf den Zeitpunkt der jeweiligen Zahlung bzw. deren Annahme durch den Aufsichtsrat abzustellen, sondern auf den Zeitpunkt der Verjährung des Ersatzanspruchs der Gesellschaft gegen den Vorstand.

2. Gefahr der eigenen Haftung begründet keine Ausnahme von der Regelverfolgungspflicht

Der Aufsichtsrat ist nach der nunmehr erneut bestätigten ARAG/Garmenbeck-Rechtsprechung grundsätzlich dazu verpflichtet, durchsetzbare Schadensersatzansprüche gegen Vorstandsmitglieder geltend zu machen. In bestimmten, im Detail seit vielen Jahren kontrovers diskutierten Ausnahmefällen kann der Aufsichtsrat allerdings von der Verfolgung absehen. Dies gilt etwa dann, wenn gewichtige Interessen der Gesellschaft entgegenstehen (z.B. das Ansehen des Unternehmens in der Öffentlichkeit). Aber auch außerhalb des Gesellschaftswohls liegende Gegengründe lässt der BGH – in engen Grenzen – zu.

Führt man sich die Kernaufgabe des Aufsichtsrats, die Überwachung der Geschäftsführung des Vorstands gem. § 111 Abs. 1 AktG, vor Augen, wird deutlich, in welches Dilemma Aufsichtsräte bei der Verfolgung von Schadensersatzansprüchen gegen den Vorstand geraten können. Regelmäßig wird sich der Aufsichtsrat fragen lassen müssen, wie es zu den Pflichtverletzungen unter seiner Aufsicht und Kontrolle kommen konnte. Dies gilt insbesondere bei Organisationspflichtverletzungen des Vorstands über längere Zeiträume, bspw. ein unzureichendes Compliance-System. Die Sorge, als Aufsichtsrat selbst in Anspruch genommen zu werden, rechtfertigt nach Auffassung des BGH jedoch keine Ausnahme:

Das persönliche Interesse des Beklagten, sich nicht selbst bezichtigen zu müssen, habe hinter seiner Pflicht, als Aufsichtsrat im Interesse der Gesellschaft Ansprüche gegen den Vorstand zu verfolgen, zurückzustehen. Der Aufsichtsrat stehe in einem besonderen Pflichtenverhältnis zur Gesellschaft. In dieser Funktion habe er insbesondere die Aufgabe übernommen, die gesamte Geschäftsführung des Vorstands zu überwachen und im Rahmen dieser nachträglichen Überwachungstätigkeit ggf. auch Ersatzansprüche gegen den Vorstand im Unternehmenswohl zu verfolgen. Die besondere Bedeutung dieser Aufgabe zeige sich daran, dass die Gesellschaft nach § 112 AktG gerichtlich und außergerichtlich gegenüber Vorstandsmitgliedern durch den Aufsichtsrat vertreten werde und hierdurch eine unbefangene Vertretung im Interesse der Gesellschaft sichergestellt werden solle. Diese besondere Überwachungs- und Schutzfunktion des Aufsichtsrats würde unterlaufen, würde man den Aufsichtsrat von ihrer Erfüllung bereits dann generell freistellen, wenn er dadurch eine eigene Pflichtverletzung oder ein ersatzverpflichtendes Verhalten offenbaren müsste.

Anmerkung

Die Easy-Software-Entscheidung des BGH schafft Klarheit, hat dabei aber weitreichende Folgen für die Aufsichtsratspraxis:

Der Aufsichtsrat hat Ansprüche der Gesellschaft gegen amtierende und ehemalige Vorstandsmitglieder zu prüfen und konsequent zu verfolgen. Kommt er dieser Pflicht nicht nach, droht auch noch viele Jahre nach der eigentlichen Pflichtverletzung des Vorstands die Gefahr, selbst für das pflichtwidrige Verjährenlassen der Ansprüche gegen den Vorstand von der Gesellschaft in Anspruch genommen zu werden.

Die Feststellung, dass die Verjährung für Schadensersatzansprüche der Gesellschaft gegen den Aufsichtsrat wegen Nichtverfolgung von Ansprüchen gegen den Vorstand erst zu laufen beginnt, wenn die durchsetzbaren Ansprüche verjährt sind, führt zu einer faktischen Verdopplung  der Verjährungsfrist von Aufsichtsratsmitgliedern.

Die Pflicht des Aufsichtsrats zur Geltendmachung von Ansprüchen gegen Vorstandsmitglieder ist die Regel und nicht die Ausnahme. Das persönliche Interesse der Aufsichtsratsmitglieder, eigene (Aufsichts-) Pflichtverletzungen nicht mittelbar im Rahmen der Anspruchsverfolgung offenbaren zu müssen (und damit unter Umständen ebenfalls von der Gesellschaft in Anspruch genommen zu werden), stellt kein zulässiges Argument für ein Absehen von der Geltendmachung von Schadensersatzforderungen dar.

Hinweis: Eine ausführliche Besprechung der Thematik Verjährung und Selbstbezichtigung in der Organhaftung wurde in der Fachzeitschrift „Die Aktiengesellschaft“ (Ausgabe 4/2019, S. 112 ff.) veröffentlicht.

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