Kündigungsformalien – die Massenentlassungsanzeige
Die 12. Kammer des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg hat in seinem Urteil vom 21.08.2018 (12 Sa 17/18) entschieden, dass die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber gem. § 134 BGB i.V. mit § 17 Abs. 1 KSchG unwirksam ist, wenn die Kündigungserklärung erfolgt, bevor die Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit eingegangen ist. Die Kündigungserklärung ist erfolgt, wenn das Kündigungsschreiben unterzeichnet ist. Auf den Zugang der Kündigungserklärung beim Arbeitnehmer kommt es nicht an.
Sachverhalt
Über das Vermögen der Arbeitgeberin war am 01.06.2017 das Insolvenzverfahren eröffnet worden. Der Insolvenzverwalter hatte unter dem 22.06.2017 einen Interessenausgleich über die Betriebsschließung mit dem Betriebsrat verhandelt und abgeschlossen. Darin war unter anderem folgende Regelung enthalten:
„(2) Der Arbeitgeber hat den Betriebsrat am 22.06.2017 gemäß § 17 Abs. 2 KSchG schriftlich unterrichtet. Nachfolgend haben die Betriebsparteien die Beratungen gemäß § 17 Abs. 2 S. 2 KSchG durchgeführt. Es besteht Einigkeit, dass die Unterrichtung und die Beratung mit Abschluss dieser Vereinbarung abgeschlossen sind. Der Interessenausgleich bildet gleichzeitig die Stellungnahme des Betriebsrates nach § 17 Abs. 3 S. 2 KSchG. Der Arbeitgeber wird diese Vereinbarung einer eventuell erforderlichen Anzeige nach § 17 Abs. 3 KSchG als Anlage beifügen."
Ebenfalls unter dem 22.06.2017 erstellte der beklagte Insolvenzverwalter eine Massenentlassungsanzeige, die am 26.06.2017 bei der Arbeitsagentur einging. Dem klagenden Arbeitnehmer ist das Kündigungsschreiben vom 26.06.2017 tags darauf, also am 27.06.2017 zugegangen. Im Rechtsstreit konnte nicht positiv festgestellt werden, dass das Kündigungsschreiben vom 26.06.2017 vom beklagten Insolvenzverwalter erst unterschrieben worden ist, nachdem die Massenentlassungsanzeige am selben Tag bei der Agentur für Arbeit eingegangen war.
Das Arbeitsgericht hat die Kündigungsschutzklage noch abgewiesen; das Landesarbeitsgericht hat das erstinstanzliche Urteil abgeändert und der Kündigungsschutzklage stattgegeben.
Entscheidungsgründe
Das Landesarbeitsgericht hat seine Entscheidung unter Verweis auf die Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofs damit begründet, dass ein Arbeitnehmer gem. § 17 Abs. 1 KSchG nur entlassen werden dürfe, wenn die Massenentlassungsanzeige zuvor bei der Agentur für Arbeit eingegangen ist. Der Begriff der Entlassung sei europarechtskonform dahingehend auszulegen, dass er die Kündigungserklärung des Arbeitgebers meint. Bei nach § 17 Abs. 1 KSchG anzeigenpflichtigen Entlassungen könne das Arbeitsverhältnis eines betroffenen Arbeitnehmers erst wirksam gekündigt werden, wenn die Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit eingegangen ist (vgl. EuGH – 27. Januar 2005 – C-188/03, NJW 2005, 1099, Rn. 35 ff.; BAG – 23. März 2006 – 2 AZR 343/05, NJW 2006, 3161 (3163 f.); 9. Juni 2016 – 6 AZR 405/15, NZA 2016, 1198, Rn. 17).
Dabei sei auf die Kündigungserklärung, die Unterzeichnung des Kündigungsschreibens, nicht auf den Zugang der Kündigung beim Arbeitnehmer abzustellen (vgl. EuGH, a.a.O., Rn. 36 f.; BAG, NZA 2016, 1198, Rn. 18; unklar BAG, NJW 2006, 3161 (3162 unter B II 1 a aa 2. Absatz, 3165 unter B II 3; a.A. BAG – 22. November 2012 – 2 AZR 371/11, NZA 2013, 845, 3. Orientierungssatz; von Hoyningen-Huene, Kündigungsschutzgesetz, 15. Aufl. 2013, § 17 Rn. 25; Moll, in: Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 5. Aufl. 2017, § 18 Rn. 43a). Nach § 17 Abs. 3 KSchG muss die Massenentlassungsanzeige u.a. Angaben zu den Gründen für die „geplanten“ Entlassungen sowie zu den „vorgesehenen“ Kriterien für die Auswahl der „zu entlassenden“ Arbeitnehmer enthalten. Die Massenentlassungsanzeige ist zu einem Zeitpunkt zu erstellen, in dem Kündigungen geplant, aber noch nicht entschieden sind. Die Anzeige muss daher die Agentur für Arbeit erreichen, bevor der Arbeitgeber die Kündigungsentscheidung trifft und das Kündigungsschreiben unterzeichnet. Bei Zugang der Kündigung wird diese zwar erst wirksam (§ 130 Abs. 1 BGB). Die zu Grunde liegende Kündigungsentscheidung des Arbeitgebers werde aber bereits zu einem früheren Zeitpunkt getroffen und manifestiere sich in der Abgabe der Kündigungserklärung mit Unterzeichnung des Kündigungsschreibens.
Hinweise für die Praxis
Das Urteil überzeugt im Ergebnis und in der Begründung nicht. Das Bundesarbeitsgericht hat in mehreren Urteilen entschieden, dass Beteiligungs- und Konsultationsverfahren, beispielsweise die Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG, abgeschlossen sein müssen, bevor die Entscheidung zur Kündigung letztlich getroffen wird. Auf die Unterzeichnung des Kündigungsschreibens hat das Bundesarbeitsgericht dabei zutreffend nicht abgestellt, sondern auf den Umstand, dass der Arbeitgeber die Kündigungserklärung aus seinem Machtbereich entlässt und auf den Weg zum Adressaten, also dem zu kündigenden Arbeitnehmer, bringt. Danach käme es also nicht auf die Unterschrift der Kündigungserklärung, sondern auf die Entscheidung zur Zustellung der Kündigung an.
In diesem Sinne wäre die Auslegung des § 17 KSchG zutreffend.
In jedem Fall ist Arbeitgebern im Fall einer Massenentlassung zu empfehlen, diese Rechtsprechung zu beachten und sowohl den exakten Zeitpunkt der Erstattung der Massenentlassungsanzeige als auch den – danach liegenden – exakten Zeitpunkt der Unterzeichnung der Kündigungserklärungen beweiskräftig zu dokumentieren.
7. Dezember 2018