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Digitale Grundrechte für Europa - eine Initiative der Zivilgesellschaft

Natürlich kann man die Ansicht vertreten, die europäische Grundrechtscharta – zusammen mit der Europäischen Konvention für Menschenrechte – reicht aus, um die berechtigten Belange des Bürgers, vor allem seinen Anspruch auf Würde, informationelle Selbstbestimmung und Freiheit im digitalen Zeitalter ausreichend vor den vielfältigen neuen Bedrohungen effektiv zu schützen. Man kann auch der Meinung sein, dass die vor Kurzem in Kraft getretene neue Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) die grundrechtlichen Belange des einzelnen Nutzers hinreichend sichert.

Doch diese Einschätzung könnte sich als Illusion erweisen. Man kann nämlich sagen, dass diese Illusion schon enttarnt ist: Der Skandal um Facebook und Cambridge Analytica steht für das Gemeinte. Die Erfahrung der Praxis – auch außerhalb des Anwendungsbereichs der DSGVO – lehrt uns ganz allgemein, dass es wohl nur sehr wenige Verbraucher gibt, welche wirklich sorgfältig sozusagen in Form einer Marktanalyse die ihnen – zum Schutz ihrer Entscheidungsfreiheit – vorvertraglich überlassenen Informationen prüfen und mit den Angeboten anderer Hersteller vergleichen, um eben dann eine wirklich “informierte” Entscheidung im Interesse und zum Schutz ihrer Grundrechte zu treffen. In der Regel siegt das reine Bequemlichkeitsinteresse des Nutzers. Ohne großes Federlesen klickt er auf “Zustimmung”.

“Clique wrap”, weil eben alle es so tun, und eine allzu arg- und sorglose, aber eben ausgesprochen bequeme Benutzung von Online-Plattformen zum Erwerb der Güter des täglichen Bedarfs in den wachsenden Verflechtungen des Internet of Things – das sind inzwischen Ausprägungen moderner “Rechtsgeschäfte”. Der Verlust der Privatautonomie wird immer deutlicher; der liberal verstandene Vertrag als autonomes Gestaltungsinstrument des bürgerlichen Lebens verliert zusehends seine Bedeutung; der de-facto-Vertrag tritt in sein Recht. Der Algorithmus erlangt die Oberhand über unser Leben, das Recht begnügt sich mittlerweile, wie zu lesen war, mit dem den freiheitsbewussten Bürger schreckenden Attribut der “Ohnmacht” (Boehme-Neßler NJW 2017, 3031).

Es waren Frank Schirrmacher, der zu früh verstorbene Chef des Feuilletons der FAZ, der Chefredakteur der ZEIT, Giovanni di Lorenzo, sowie der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, welche – zusammen mit anderen Experten verschiedenster Provenienz – den Beschluss fassten, sich diesen Bedrohungen der europäischen Grundwerte durch die ungebändigten Kräfte der Digitalisierung mit aller Macht, freilich: nur mit der Kraft des politischen Wortes entgegenzustellen. Jetzt liegt – unter dem Dach der “ZEIT-Stiftung” herausgegeben – seit Ende April 2018 der überarbeitete Entwurf einer Digitalen Grundrechtscharta für Europa vor (abrufbar unter: https://digitalcharta.eu/ Abruf: 11.07.2018).

Die Gefahren, wie sie in Art. 1 Abs. 2 der Charta aufgeführt sind: “BIG DATA, Künstliche Intelligenz, Vorhersage und Steuerung menschlichen Verhaltens, Massenüberwachung, Einsatz von Algorithmen, Robotik und Mensch-Maschine-Verschmelzung sowie Machtkonzentration bei privaten Unternehmen.” Dass diese Entwicklungen die Menschenwürde akut gefährden, ist leider ein gesicherter Tatbestand, der freilich im öffentlichen Bewusstsein bislang nur teilweise angekommen ist.

Als rechtliche Gegenwehr daher dieser Vorschlag, nachzulesen in Art. 8 der Charta: “Ethisch-normative Entscheidungen können nur von Menschen getroffen werden.” Das ist eine weitreichende Absage an die ungebändigten Kräfte der Künstlichen Intelligenz. Ihr Risiko besteht ja im Nichtsteuerbaren, im Nichtvorhersehbaren, das “Unglück” oder “Zufall” zu nennen, steht uns aber nicht an. Denn der entscheidende – unerledigte – Einwand ist und bleibt: Darf ein Rechtsstaat eine Entwicklung an zahllosen Stellen durch den Einsatz Künstlicher Intelligenz im Rahmen maschinengenerierter Daten zulassen, deren Folgen keiner nach dem Stand von Wissenschaft und Technik sicher voraussehen oder mit Verlässlichkeit einhegen kann?

Daher ist Gegenwehr angesagt: “Der Einsatz und die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz in grundrechtsrelevanten Bereichen muss gesellschaftlich begleitet und vom Gesetzgeber reguliert werden.” Das ist eine riesige legislatorische Herausforderung angesichts einer rasant voranschreitenden Technologie. Es geht aber letztlich darum sicherzustellen, dass unser überkommenes Welt- und Menschenbild mit dem Menschen als der “Krone der Schöpfung” nicht durch ein kybernetisches Modell, gesteuert und gelenkt von Algorithmen und der Rechenkunst der Mathematiker, abgelöst wird.

Gegen dieses die freiheitliche Demokratie bedrohende Gespenst, dass nämlich Facebook und Cambridge Analytica mit ihren künstlichen Filterblasen den Wahlsieg von Donald Trump und die unerwartete Zustimmung zum BREXIT beschert haben, wird eine unabweisbar zutreffende Forderung in der Charta in Stellung gebracht: “Das Transparenzgebot gilt auch gegenüber Privaten, sofern diese über Informationen verfügen, die für die Freiheitsverwirklichung Betroffener von entscheidender Bedeutung sind” (Art. 9 Abs. 2). Und weiterführend: “Jeder hat ein Recht auf Verschlüsselung seiner Daten” (Art. 12 Abs. 2). Aber jeder Bürger hat auch ein “Recht auf einen digitalen Neuanfang”, was ein anderes Wort für das “Recht auf Vergessenwerden” ist (Art. 18).

Fazit: Das Recht muss sich auf europäischer Ebene im Interesse bürgerlicher Grundrechte entschieden gegen die Gefahren der Digitalisierung wehren.

Erschienen in: Betriebs-Berater, Heft 31, 30.07.2018

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