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Gerichtliche Bindung betrügerisch erlangter Sozialversicherungsbescheinigungen eines anderen Mitgliedstaates

Der EuGH hat am 06.02.2018 (C-359/16) entschieden, dass ein nationales Gericht in einem Verfahren gegen Personen, die verdächtigt werden, entsandte Arbeitnehmer unter Verwendung betrügerisch erlangter oder geltend gemachter Sozialversicherungsbescheinigungen eingesetzt zu haben, diese Bescheinigungen außer Acht lassen kann.

Sachverhalt

Ein im Bausektor tätiges belgisches Unternehmen betraute mit den Arbeiten auf sämtlichen seiner Baustellen bulgarische Unternehmen als Subunternehmen, die Arbeitnehmer nach Belgien entsandten. Die Arbeitnehmer waren beim belgischen Träger, dem die Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge obliegt, nicht angemeldet, da sie die Bescheinigungen E 101 (jetzt: A 1) besaßen, welche die soziale Sicherheit für Arbeitnehmer betreffen, die vorübergehend in einen anderen Mitgliedstaat entsendet werden. Diese Bescheinigungen waren von der zuständigen bulgarischen Behörde ausgestellt worden. Die gerichtliche Untersuchung eines belgischen Untersuchungsrichters im Rahmen eines Rechtshilfeersuchens ergab, dass die bulgarischen Unternehmen in Bulgarien keine nennenswerte geschäftliche Tätigkeit ausübten. Die belgischen Behörden reichten beim bulgarischen Träger einen Antrag auf erneute Prüfung oder Widerruf der Bescheinigungen ein. Daraufhin übersandte der Träger eine Aufstellung der ausgestellten Bescheinigungen und teilte mit, dass die bulgarischen Unternehmen die Voraussetzungen der Entsendung administrativ erfüllt hätten, ohne dabei die von den belgischen Behörden festgestellten und bewiesenen Tatsachen zu berücksichtigen.

Die belgischen Behörden leiteten gegen die Verantwortlichen des belgischen Unternehmens ein Strafverfahren ein. Diese wurden vom Berufungsgericht verurteilt. Dabei stellte das Gericht fest, dass es nicht an die ausgestellten Bescheinigungen gebunden sei, weil diese betrügerisch erwirkt worden seien.

Der belgische Kassationsgerichtshof, der mit dieser Rechtsfrage befasst wurde, legte dem EuGH die folgende Frage zur Vorabentscheidung vor: Kann eine E-101-Bescheinigung, die gem. Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 574/72 in der vor ihrer Aufhebung durch Art. 96 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 geltenden Fassung ausgestellt wurde, von einem anderen Gericht als dem des Entsendemitgliedsstaats für nichtig erklärt oder außer Acht gelassen werden, wenn der Sachverhalt, über den es zu befinden hat, die Feststellung trägt, dass die Bescheinigung betrügerisch erwirkt oder geltend gemacht wurde?

Entscheidungsgründe

Der EuGH stellt zum einen klar, dass der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 AEUV den ausstellenden Träger verpflichte, den Sachverhalt, der für die Bestimmung der im Bereich der sozialen Sicherheit anwendbaren Rechtsvorschriften maßgebend ist, ordnungsgemäß zu beurteilen und damit die Richtigkeit der in der Bescheinigung E 101 aufgeführten Angaben zu gewährleisten. Da diese Bescheinigung eine Vermutung dafür begründe, dass der Anschluss des betreffenden Arbeitnehmers an das soziale System der Sicherheit des Mitgliedsstaats, in dem das Unternehmen, das ihn beschäftigt, niedergelassen ist, ordnungsgemäß ist, binde sie folglich grds. den zuständigen Träger des Mitgliedstaats, in dem dieser Arbeitnehmer eine Arbeit ausführt.

Aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit ergebe sich allerdings auch, dass die Träger der anderen Mitgliedstaaten berechtigterweise erwarten dürfen, dass der Träger des betroffenen Mitgliedstaats seiner Pflicht einer sorgfältigen Prüfung der Anwendung seiner eigenen Regelung nachgekommen ist. Der zuständige Träger des Mitgliedstaats, der die Bescheinigung E 101 ausgestellt hat, müsse folglich überprüfen, ob die Ausstellung zu Recht erfolgt ist und diese Bescheinigung ggfs. zurückziehen, wenn der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitnehmer eine Arbeit ausführt, Zweifel an der Richtigkeit des der Bescheinigung zugrunde liegenden Sachverhalts und demnach der darin gemachten Angaben insbesondere deshalb geltend macht, weil diese den Tatbestand des Art. 14 Nr. 1 Buchstabe  a der Verordnung Nr. 1408/71 nicht erfüllten.

Wenn die im Rahmen einer gerichtlichen Prüfung gesammelten Beweise also die Feststellung erlauben, dass die Bescheinigungen betrügerisch erlangt oder geltend gemacht wurden und der Träger des Aufnahmemitgliedstaates daraufhin den Träger, der die Bescheinigungen ausgestellt hat, mit einem Antrag auf erneute Prüfung und Widerruf dieser Bescheinigungen befasst, hat der ausstellende Träger diese Beweise zu berücksichtigen um erneut zu prüfen, ob die Ausstellung der Bescheinigung zu Recht erfolgt ist. Unterlässt er dies, kann das Gericht diese Bescheinigungen dann außer Acht lassen, wenn es auf der Grundlage der genannten Beweise und unter Beachtung der vom Recht auf ein faires Verfahren umfassten Garantien, die diesen Person zu gewähren sind, feststellt, dass ein solcher Betrug vorliegt.

Hinweise für die Praxis

Die Entscheidung betrifft die strafrechtliche Verantwortlichkeit für das Beschäftigen (vermeintlich) entsandter Arbeitnehmer. Den Verantwortlichen kommt die Vermutung der Ordnungsmäßigkeit der Sozialversicherungsbescheinigung des ausstellenden Trägers nicht in jedem Fall zugute. Vielmehr kann ein Gericht des Mitgliedsstaates, in welchem die Arbeitnehmer beschäftigt werden, eine solche Bescheinigung außer Acht lassen, wenn der ausstellende Träger eine erneute Überprüfung trotz hinreichender Anhaltspunkte für ein betrügerisches Erlangen nicht vorgenommen hat. Unternehmer werden sich bei der Beschäftigung von Arbeitnehmern nicht (mehr) auf die Untätigkeit des Trägers, der die Sozialversicherungsbescheinigungen ausgestellt hat, verlassen können. Betrugsfälle im Bereich der (vermeintlichen) Arbeitnehmerentsendung sollen so effektiver verfolgt werden.

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