Dr. Christoph Fingerle, Fachanwalt für Arbeitsrechtlena czapula arbeitsrecht 1.jpg

Schwellenwerte im deutschen Arbeitsrecht und Beschäftigte im Ausland

Das deutsche Arbeitsrecht hat häufig Auslandsbezug - deutsche Unternehmen sind mit Zweigstellen im Ausland tätig und beschäftigen dort in der Regel ausländische Arbeitnehmer, während ausländische Unternehmen mit Niederlassungen in Deutschland vertreten sind und hier regelmäßig deutsche Arbeitnehmer beschäftigen. Gerade im Drei-Länder-Eck trifft man auf kleinere Betriebe (10 Arbeitnehmer oder weniger in Deutschland) mit weiteren Arbeitnehmern in den angrenzenden Staaten, die organisatorisch eine Einheit bilden, jedoch räumlich voneinander getrennt sind.

Das für das einzelne Arbeitsverhältnis anwendbare Recht richtet sich dann grundsätzlich nach dem Tätigkeitsstaat. Was gilt jedoch, wenn die Anwendbarkeit von Arbeitnehmerschutzvorschriften in Deutschland von der Beschäftigung einer bestimmten Anzahl von Arbeitnehmern abhängt (sog. Schwellenwerte) - werden zur Ermittlung der Anwendbarkeit der jeweiligen Gesetze im Ausland beschäftigte Arbeitnehmer berücksichtigt, wenn die Betriebsstätten in Deutschland und im Ausland organisatorisch eine Einheit bilden?

Im deutschen Arbeitsrecht finden sich viele Schwellenwerte, wie in § 23 Abs. 1 Kündigungsschutzgesetz („KSchG"), § 17 KSchG, § 1 Betriebsverfassungsgesetz („BetrVG"), § 111 BetrVG, § 112a BetrVG, § 1a Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, § 622 Abs. 5 Nr. 2 BGB, § 1 Mitbestimmungsgesetz („MitbestG"), § 1 Drittelbeteiligungsgesetz („DrittelbG"), § 9 Europäisches Betriebsräte-Gesetz.

Im Grundsatz gilt für die Berechnungsgrundlage der Schwellenwerte das Territorialitätsprinzip. Das Territorialitätsprinzip gründet im Völkerrecht und bestimmt, dass den einzelnen Staaten die Rechtssetzungsbefugnis nur für ihr Staatsgebiet zusteht und es ihnen verwehrt ist, in die Rechtssetzungsbefugnisse anderer Staaten einzugreifen.

In Anwendung des Territorialitätsprinzips können Betriebsräte gemäß § 1 Abs. 1 BetrVG nur dann errichtet werden, wenn der Betrieb seinen Sitz im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland hat - unabhängig davon, ob der Rechtsträger ein ausländisches Unternehmen ist -  und in diesem Betrieb in der Regel mindestens fünf wahlberechtigte Arbeitnehmer ständig beschäftigt werden (BAG v. 25.04.1978 - 6 ABR 2/77; BAG v. 22.03.2000 - 7 ABR 34/98; BAG v. 14.02.2007 - 7 ABR 26/06). Daher sind nur solche Arbeitnehmer zu berücksichtigen, die in Betrieben auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt werden. Entsprechendes gilt z.B. für § 111 und § 112a BetrVG - bei sämtlichen Schwellenwerten des BetrVG stellt das Bundesarbeitsgericht auf das Territorialitätsprinzip ab und berücksichtigt nur Arbeitnehmer, die in einem Betrieb in Deutschland beschäftigt werden (BAG v. 22.03.2000 - 7 ABR 34/98).

Das KSchG gilt gemäß § 23 Abs. 1 in Betrieben, die mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigen. Das Bundesarbeitsgericht stellt im Anwendungsbereich des KSchG darauf ab, dass der Betrieb als organisatorische Einheit in Deutschland gelegen sein muss und die Größenerfordernisse durch die Arbeitnehmer in Deutschland erfüllt werden (BAG v. 29.08.2013 - 2 AZR 809/12; BAG v. 17.01.2008 - 2 AZR 902/06; BAG V. 07.11.1996 - 2 AZR 648/95).

Ein weiterer Schwellenwert ist in § 17 Abs. 1 KSchG enthalten, der den Arbeitgeber verpflichtet, der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten, bevor er in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 oder weniger als 60 Arbeitnehmern mehr als fünf Arbeitnehmer innerhalb von 30 Kalendertagen entlässt. Auch hier müssen die Betriebe gemäß § 23 Abs. 2 KSchG in Deutschland gelegen sein. Zur Begründung zieht das Bundesarbeitsgericht den Betriebsbegriff des BetrVG heran und das Territorialitätsprinzip.

Vom Grundsatz der Territorialität ging bisher auch die herrschende Meinung im Hinblick auf die unternehmerische Mitbestimmung aus. Sowohl das MitbestG als auch das DrittelbG legen für ihre Anwendbarkeit Schwellenwerte fest. Das MitbestG findet gemäß § 1 Abs. 1 MitbestG Anwendung, wenn ein Unternehmen mehr als 2.000 Arbeitnehmer beschäftigt, das DrittelbG gilt gemäß § 1 Abs. 1 DrittelbG bei Beschäftigung von mehr als 500 Arbeitnehmern. Sofern das Unternehmen herrschendes Unternehmen eines Konzerns (§ 18 AktG) ist, sind die Arbeitnehmer der Tochtergesellschaften der Konzernobergesellschaft zuzurechnen. Sind die Schwellenwerte überschritten, ist ein mitbestimmter Aufsichtsrat zu errichten, der entweder zur Hälfte oder zu einem Drittel aus Arbeitnehmervertretern besteht. Nach dem Territorialitätsprinzip waren für die Ermittlung der Schwellenwerte bisher nur in Deutschland beschäftigte Arbeitnehmer zu berücksichtigen. Für den Fall, dass ein deutsches Unternehmen mehr als 2.000 Arbeitnehmer beschäftigte und darüber hinaus für das deutsche Unternehmen selbst oder für eine Tochtergesellschaft Arbeitnehmer im Ausland tätig waren, nahmen lediglich die in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer an der Wahl der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat teil.

Das Landgericht Frankfurt a.M. hat 2015 abweichend vom Grundsatz der Territorialität entschieden, dass auch im Ausland Beschäftigte sowohl bei der Berechnungsgrundlage für Schwellenwerte nach dem MitbestG/DrittelbG zu berücksichtigen, als auch an der Wahl der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat zu beteiligen seien. Dies hat das Gericht u.a. damit begründet, dass der Wortlaut des MitbestG/DrittelbG im Ausland Beschäftigte an keiner Stelle von der Mitbestimmung ausnehme. Vielmehr knüpfe das MitbestG für die Frage, ob Arbeitnehmer von Tochtergesellschaften der Konzernobergesellschaft zuzurechnen sind, und das DrittelbG für die Frage der Wahlbeteiligung, an den Konzernbegriff des Aktienrechts an, der unstreitig nicht auf die Bundesrepublik Deutschland beschränkt sei. Im Übrigen sei bei Nichtberücksichtigung im Ausland beschäftigter Arbeitnehmer eine Diskriminierung ausländischer Arbeitnehmer sowie eine Verletzung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu befürchten. Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig, wird derzeit vom Oberlandesgericht Frankfurt a.M. überprüft.

Darüber hinaus war das Kammergericht Berlin im vergangenen Oktober mit der Frage befasst, ob im Ausland beschäftigte Arbeitnehmer bei der Wahl der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat zu beteiligen sind. In dem konkreten Fall war der Schwellenwert des § 1 Abs. 1 MitbestG bereits in Deutschland überschritten, sodass es auf die Frage, ob im Ausland beschäftigte Arbeitnehmer bei der Feststellung der Anwendbarkeit des Mitbestimmungsgesetzes zu berücksichtigen sind, nicht ankam. Das Kammergericht Berlin hat daraufhin dem Europäischen Gerichtshof („EuGH") die Frage zur Beantwortung vorgelegt, ob es mit Europarecht vereinbar ist, dass das Recht, Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat zu wählen, nur solchen Arbeitnehmern zusteht, die in Betrieben des Unternehmens oder der Konzernunternehmen im Inland, also in Deutschland, beschäftigt sind.

Der EuGH wird mithin die Vereinbarkeit der deutschen unternehmerischen Mitbestimmung mit europäischem Recht - konkret mit dem Ausschluss im Ausland beschäftigter Arbeitnehmer von den Wahlen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat - zu überprüfen haben. Insbesondere wird der EuGH entscheiden, ob (ausländische) Arbeitnehmer durch den Ausschluss von der deutschen Mitbestimmung im Wege des Territorialitätsprinzips diskriminiert oder in ihrer Freizügigkeit eingeschränkt werden.

Hinweis

Welche Auswirkungen haben das Urteil des Landgerichts Frankfurt a.M. und eine etwaig entsprechende Entscheidung des EuGH auf die übrigen Arbeitsgesetze und deren Schwellenwerte? Sind auch bei anderen Arbeitsgesetzen wie dem KSchG oder dem BetrVG im Ausland beschäftigte Arbeitnehmer zu berücksichtigen?

Da diese Gesetze nicht auf europarechtlichen Vorgaben beruhen, somit originäres innerstaatliches Recht sind und die Beschränkung auf das Territorialitätsprinzip keine europarechtswidrige oder sonstige Ungleichbehandlung bewirkt, dürfte dies zu verneinen sein.

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