Fasst man die Ergebnisse der Rechtsprechung zusammen, die als Wegmarken für die Interpretation der großen Zahl neuer Gesetze anzusehen sind, die uns die Reform des Schuldrechts am 01.01.2002 beschert hat, dann fällt das Fazit ein wenig ernüchternd aus: Es sind vor allem Fälle, die den Kauf von Gebrauchtwagen, von Hunden und von Pferden betreffen, also weithin das, was man „Verbraucherrecht" nennt. Das kommt nicht ganz von ungefähr, denn der wesentliche Impuls für die Modernisierung und die weit reichende Neugestaltung des Schuldrechts in unserem BGB folgte den Vorgaben der europäischen Richtlinie zum Verbrauchsgüterkauf.
Aber diese Erklärung ist wohl nur die „halbe Miete". Denn eine Analyse der Rechtsprechung lässt mehr und mehr erkennen, dass - ganz allgemein - im Bereich des Vertragsrechts die Fälle überwiegen, die fast nur noch Streitigkeiten des (kleinen) Mittelstandes betreffen. Das ist vor allem auch für die große Zahl der Entscheidungen festzustellen, welche sich mit der richterlichen Inhaltskontrolle von AGB-Klauseln im unternehmerischen Verkehr befassen. Es überwiegt - das lässt sich festhalten - das „Kleinteilige". Große Fälle kommen ausgesprochen selten vor die Schranken des Gerichts. Schon seit Jahrzehnten vermisst man Urteile zum Unternehmenskauf. Offenbar ist es so, dass diese Streitigkeiten mehr und mehr den Schiedsgerichten zugewiesen werden.
Das ist freilich - rechtspolitisch gewertet - in jeder Hinsicht mehr als problematisch. Denn wenn sich die Fortentwicklung des Rechts - und genau dies bewirken ja die Präjudizien in den Entscheidungen des BGH - fast nur noch im Bereich mittelständischer Streitigkeiten oder gar dem „Verbraucherrecht" weiter entwickelt, dann fehlt den Gerichten zwangsläufig die erforderliche Erfahrung, wie denn - faktisch wie rechtlich - großrahmige Streitverfahren zu beurteilen sind. Die Industrie entzieht offenbar der Justiz mehr und mehr das Vertrauen, wenn es ums „große Geld" geht. Dann vertraut sie mehr der Entscheidungsmacht und der Kompetenz von Schiedsrichtern. Doch deren Urteile unterliegen nicht der kritischen Sicht der Öffentlichkeit, weil sie „geheim" bleiben. Die erforderlichen Fragen nach Recht und nach Gerechtigkeit werden dann gar nicht mehr gestellt.
Dieser Befund drängt sich nach zehn Jahren Schuldrechtsmodernisierung geradezu auf. Er ist mittlerweile auch empirisch gut belegt. Daran wird sich voraussichtlich auch auf Sicht nichts ändern. Denn hier kommt das zum Tragen, was man gemeinhin eine „self fulfilling prophecy" nennt: Je länger der Trend anhält, dass sich die Rechtsprechung in den entscheidenden Bereich von Kauf-, Werk- und Mietvertragsrecht nur mit Fällen befasst, die auch jeder beliebige Nachbar ausfechten könnte, dann fehlt auf Sicht dem Recht die ordnende Kraft.
Dann entsteht wie von selbst eine Schräglage. Denn die Frage bleibt ja unbeantwortet, wie sich denn „Recht" in den Fällen verwirklicht, in denen die größeren oder auch die großen Unternehmen untereinander einen Konflikt austragen. Das kritische Auge der Öffentlichkeit steht jedenfalls nicht zur Verfügung, und das Recht des Stärkeren hat wohl häufiger das Sagen als dies für das Gemeinwohl zuträglich wäre.
Dahinter steht dann die weitere Erkenntnis: Immer sind es - diese Regel gilt auch in unserem Rechtssystem nahezu unangefochten - die einzelnen Fälle, die auf Grund gerichtlicher Urteile das Recht gestalten. Der Engländer sagt hierzu sarkastisch: „Bad cases make bad law". Das ist unmittelbar einsichtig. Doch die Bilanz der Schuldrechtsmodernisierung lässt nicht nur diesen Schluss zu, sondern sie belegt vielmehr, dass es sich hier in Deutschland um einen allgemeinen Trend handelt. Er besteht nicht aus „bad cases", sondern er besteht aus dem kaum bislang in der Öffentlichkeit wahr genommenen Phänomen, dass das Recht vorwiegend von und für kleinere und mittlere Unternehmen gestaltet werden. Es sind eben diese „cases", die das allgemein gültige Recht gestalten, die dann auch Schutzbarrieren zugunsten des Schwächeren errichten, wo man vielleicht sonst lieber die Grundsätze der Vertragsfreiheit anerkannt hätte.
Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen
15. Oktober 2012