Aktiengesellschaften, deren Aktien an der Börse notiert sind, sind verpflichtet, Umstände, die geeignet sind, den Börsenkurs erheblich zu beeinflussen (sog. „Insiderinformationen") unverzüglich bekannt zu machen. Die Insiderinformation ist dann üblicherweise innerhalb von wenigen Stunden nach dem Eintreten dieses Umstands zu veröffentlichen (sog. „Ad-hoc-Mitteilung"). Bei länger andauernden Verhandlungen, die die Gesellschaft mit einem Vertragspartner führt, oder wenn an einer Entscheidung verschiedene Organe (z.B. Vorstand und Aufsichtsrat) mitwirken, stellt sich in der Praxis regelmäßig die Frage, wann genau die Pflicht zur Veröffentlichung besteht. Der EuGH hat in einem Urteil vom 28.06.2012 folgendes klargestellt: Ein bloßer Zwischenschritt, der einer Entscheidung eines börsennotierten Unternehmens vorausgeht, kann eine Insiderinformation i.S.v. § 13 Abs. 1 WpHG darstellen, über die die Finanzmärkte informiert werden müssen.
Hintergrund
Der damalige Vorstandsvorsitzende der DaimlerChrysler AG, Jürgen Schrempp, hatte Mitte Mai 2005 mit dem damaligen Aufsichtsratsvorsitzenden über seinen beabsichtigten Rücktritt gesprochen, der dann Dieter Zetsche als möglichen Nachfolger und andere Führungskräfte einweihte. Nachdem der Aufsichtsrat dem vorzeitigen Ausscheiden Schrempps am 28. Juli zustimmte und dies in einer Ad-Hoc-Mitteilung bekanntgab, zogen die Aktien des Konzerns deutlich an. Eine Vielzahl von Anlegern, die ihre Aktien kurz zuvor verkauft hatten, machten daraufhin Schadenersatzansprüche geltend, weil die Information zum Rücktritt von Jürgen Schrempp zu spät veröffentlicht worden sei. Der BGH legte dem EuGH Fragen zur Auslegung zweier Bestimmungen aus den Richtlinien 2003/6/EG und 2003/124/EG über Insidergeschäfte und Marktmanipulation vor. Diese Bestimmungen sind durch §§ 13 ff. WpHG in deutsches Recht umgesetzt worden.
Urteil des EuGH vom 28.06.2012, Az.: C-19/11
Der Europäische Gerichtshof entschied in seinem Urteil, dass bei einem zeitlich gestreckten Vorgang, bei dem ein bestimmter Umstand verwirklicht oder ein bestimmtes Ereignis herbeigeführt werden soll, nicht nur dieser Umstand oder dieses Ereignis eine „konkrete Information" i.S.d. § 13 Abs. 1 WpHG darstellen kann, sondern auch bereits die mit der Verwirklichung dieses Umstands oder Ereignisses verknüpften Zwischenschritte.
Gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 WpHG gelten als Umstände auch solche, bei denen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass sie in Zukunft eintreten werden. Zur Frage der Eintrittswahrscheinlichkeit stellte der EuGH klar, dass keine hohe Eintrittswahrscheinlichkeit erforderlich sei. Ferner entschied der EuGH, dass die zwei Tatbestandsmerkmale i) Vorliegen einer präzisen (hinreichend wahrscheinlichen) Information und ii) deren Eignung, den Kurs von Finanzinstrumenten spürbar zu beeinflussen (Kursrelevanz), unabhängig voneinander zu prüfen sind, wenn zu entscheiden ist, ob eine Insiderinformation i.S.v. § 13 Abs. 1 WpHG vorliegt.
Anmerkung
Das Urteil hat Bedeutung für die Schadensersatzklagen von Anlegern gegen die Daimler AG vor den deutschen Gerichten: Die Gerichte werden nun insbesondere prüfen müssen, ob das Gespräch Mitte Mai 2005 über den beabsichtigten Rücktritt - bei dem es sich um einen Zwischenschritt zum späteren Ausscheiden handelte - bereits eine hinreichend konkrete Information darstellte und zu veröffentlichen war.
Darüber hinaus wird das Urteil jedoch eher geringe Auswirkungen in der Praxis haben: Bereits bislang ging der deutsche Gesetzgeber davon aus, dass Zwischenschritte im Wege von Ad-hoc-Mitteilungen zu veröffentlichen sind, wenn die Voraussetzungen des § 13 WpHG erfüllt sind. Nach Es gibt dafür allerdings auch eine Befreiungsmöglichkeit: nach § 15 Abs. 3 WpHG ist die Aktiengesellschaft von der Veröffentlichungspflicht so lange befreit, wie es der Schutz ihrer berechtigten Interessen erfordert. Ein solcher Fall liegt nach den Regelbeispielen des § 6 WpAIV dann vor, wenn Verhandlungen geführt werden und die Veröffentlichung einer Insiderinformation diese Verhandlungen erheblich beeinträchtigen würden oder wenn für die Wirksamkeit einer Maßnahme die Zustimmung eines anderen Organs - z.B. des Aufsichtsrates - notwendig ist.
Dr. Hendrik Thies
23. Juli 2012