Seit dem 12. Mai 2011 haben Umweltverbände ein umfassendes Verbandsklagerecht, denn am 12. Mai 2011 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) durch Urteil in der Rechtssache C-115/09 Regelungen im deutschen Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz (UmwRG) für europarechtswidrig erklärt, soweit sie Umweltverbänden nur ein eingeschränktes Klagerecht gegen umweltrelevante Projekte eingeräumt haben.

Bisherige Rechtslage

Die Bestimmungen des deutschen Rechts haben die Verbandsklage im Umweltrecht lediglich eingeschränkt gewährt.

Anerkannte inländische oder ausländische Umweltschutzvereinigungen konnten nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwRG zwar eine Klage erheben. Dazu mussten sie aber geltend machen können, dass die Entscheidung oder ihr Unterlassen Rechtsvorschriften widersprach und diese Rechtsvorschriften dem Umweltschutz dienten und Rechte Einzelner begründeten. Letzteres war in der Praxis eine hohe Hürde.

Anlass der Entscheidung

Ursprung der Entscheidung des EuGH war eine Vorlage des OVG Münster zur Vorabentscheidung dreier Rechtsfragen, die für den Fortgang eines dort anhängigen Verfahrens entscheidend waren. In diesem Ausgangsverfahren hatte der Landesverband NRW des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) gegen die Erteilung einer Teilgenehmigung für ein Steinkohlekraftwerk in Lünen geklagt. Dieses Steinkohlekraftwerk sollte in der Nachbarschaft von fünf „Flora-Fauna-Habitat-Gebieten" errichtet werden. Solche Gebiete sind jedoch durch europäisches Recht - die „Habitatrichtlinie" - besonders geschützt.

Das OVG Münster ging zwar davon aus, dass die Genehmigungsbescheide unter Verstoß gegen die Habitatrichtline ergangen sind, hatte jedoch Zweifel daran, dass der BUND zulässigerweise Klage erheben konnte. Denn um zulässig Klage erheben zu können, hätte der BUND nämlich die Verletzung der Rechte Einzelner geltend machen können müssen. Ob eine deutsche Rechtsvorschrift jedoch Rechte Einzelner schützt, bemisst sich danach, inwieweit sie das geschützte Interesse bzw. Rechtsgut, die Art der Verletzung und den geschützten Personenkreis klarstellt und abgrenzt. Das Gericht sah jedoch wasser- und naturschutzrechtliche Vorschriften sowie den Vorsorgegrundsatz verletzt - allesamt Regelungen, die zwar dem Schutz der Allgemeinheit an sich, nicht aber des Einzelnen im Besonderen dienen.

Damit wurde nach Ansicht des OVG Münster jedoch der den Umweltverbänden durch Art. 10a der Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung (85/337/EWG) eingeräumte Zugang zu den Gerichten beschränkt. Das Gericht legte dem EuGH daher die Frage zur Entscheidung vor.

Inhalt der Entscheidung

Der Gerichtshof hat die Frage beantwortet: Der Beschränkung steht Art. 10a der Richtlinie zur Umweltverträglichkeitsprüfung entgegen; sie ist also unzulässig. Zugleich hat es den Umweltverbänden ein unmittelbares Klagerecht aus Art. 10a Abs. 3 S. 3 der Richtlinie eingeräumt soweit es um umweltrelevante Entscheidungen geht und das nationale Verwaltungsprozessrecht eine Klagebefugnis nicht vorsieht. Nach Aussage des EuGH reicht die Kraft der Entscheidung jedoch nur so weit, wie es um Vorschriften geht, die europäisches Umweltrecht umsetzen sowie für unmittelbar geltendes EU-Recht.
Der EuGH hat sich bei Beantwortung der Frage von der Überlegung leiten lassen, dass Art. 10a Abs. 1 der Richtlinie 85/337/EWG festlegt, dass Entscheidungen über Projekte, für die eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt werden muss, gerichtlich überprüfbar sein müssen. Die Norm beschränke aber in keiner Weise die Gründe, auf die ein solcher Rechtsbehelf gestützt werden darf. Außerdem lege Art. 10a Abs. 3 S. 1 fest, dass durch die Staaten ein „weiter Zugang zu den Gerichten" gewährt werden soll. Daneben müsse auch beachtet werden, dass aus dem Unionsrecht erwachsende Rechte ebenso wirksam durchgesetzt werden können müssen wie aus dem nationalen Recht stammende und dass die Ausübung dieser aus dem Unionsrecht stammenden Rechte weder praktisch unmöglich gemacht noch übermäßig erschwert werden darf.

Der EuGH führt weiter aus, dass die Mitgliedstaaten der EU verpflichtet sind, die in einer Richtlinie vorgesehenen Ziele zu erreichen. Geschehe dies nicht, weil eine Richtlinie beispielsweise nicht fristgerecht oder nur ungenügend in nationales Recht umgesetzt worden ist, dürfe sich der Einzelne auf die Richtlinie selbst berufen. Dieser direkte Rückgriff auf eine EU-Richtlinie könne jedoch nur Erfolg haben, wenn die Vorschriften inhaltlich unbedingt und hinreichend genau seien. All dies sei für Art. 10a Abs. 3 S. 3 der Richtlinie 85/337/EWG der Fall, sodass Umweltverbänden trotz widerstehenden nationalen Verfahrensrechts eine Klagemöglichkeit eröffnet sei.

Auswirkungen in der Praxis

Die Entscheidung des EuGH erweitert die Möglichkeiten von Umweltverbänden zur Klageerhebung um ein Vielfaches. Allerdings können sie das Klagerecht direkt aus Art. 10a Abs. 3 S. 3 der Richtlinie 85/337/EWG nur dann ausüben, wenn sie Verstöße gegen unionsrechtliche Umweltvorschriften rügen wollen. Es ist damit noch offen, auf welche Vorschriften im Einzelnen die Verbandsklagen gestützt werden können. Aufklärung kann insoweit nur die Rechtspraxis liefern. Gleichwohl ist von einem weiten Anwendungsfeld auszugehen, da von dieser Klagemöglichkeit alle Vorhaben betroffen sind, die einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterliegen - seien es industrielle Großvorhaben oder uvp-pflichtige Straßenbauvorhaben.

Besonders hervorzuheben ist, dass die Zulässigkeit entsprechender Verbandsklagen mit sofortiger Wirkung eingetreten ist. Umweltverbände müssen daher keine Umsetzungsfristen oder ähnliches abwarten, ehe sie zum Rechtsbehelf der Verbandsklage greifen können.

Verbandsklagen werden in Zukunft mehr Aussicht auf Erfolg haben, da sie auf eine größere Anzahl von Gründen als bisher gestützt werden können. Die Gerichte werden gehalten sein, die Einhaltung sämtlicher europarechtlicher Umweltvorschriften zu prüfen. Einmal mehr hat der EuGH klargestellt, dass er die Entwicklung des Umweltrechtes bestimmt.

Dr. Volker Stehlin, Peter Metzger

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