EU-Regelung auch bei zwingender Genehmigung zu berücksichtigen

War ein Vorhaben in einem Gebiet geplant, für das es keinen Bebauungsplan gibt, hat sich seine Zulässigkeit bislang nur nach § 34 BauGB gerichtet. Nach diesem war eine Baugenehmigung zu erteilen, wenn sich das geplante Bauwerk in die nähere Umgebung eingefügt hat und seine Erschließung gesichert war. Der Genehmigungsbehörde waren dabei Ermessensspielräume verwehrt. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 15.09.2011, Az.: C-53/10 hat das nun geändert: Die Genehmigungsbehörde darf auch im „unbeplanten Innenbereich" eine Baugenehmigung nur noch erteilen, wenn ihrer Ansicht nach der Abstand des Bauvorhabens zu Industrieanlagen, in denen gefährliche Stoffe verarbeitet werden, kein Problem darstellt. Dies gilt umgekehrt auch bei der Neuansiedlung oder Erweiterung von solchen Industriebetrieben. Eine Genehmigung wird also nicht mehr automatisch erteilt werden können. Die Behörde muss vielmehr Abstände bei ihrer Entscheidung berücksichtigen, sodass die Genehmigung im Ermessen der Behörde steht.

Der Fall

Der Bauherr beabsichtigte, in einem Gewerbegebiet von Darmstadt ein Gartencenter zu errichten. Für das Gebiet gibt es keinen Bebauungsplan. Es finden darin verschiedene gewerbliche Nutzungen statt, z.B. großflächiger Einzelhandel, Großhandel, Werkstätten und Übernachtungsgewerbe. Etwa 250 Meter von dem Baugrundstück entfernt befindet sich ein Betriebsgelände des Pharma- und Chemieherstellers Merck.

Nachdem der Bauherr einen positiven Bauvorbescheid erhalten hatte, legte Merck erfolgreich Widerspruch gegen den Bauvorbescheid ein. Nach Auffassung des Unternehmens müssten gem. Art. 12 Abs. 1 der EG-Richtlinie 96/82 („Seveso-II-Richtlinie") Gebäude mit viel Publikumsverkehr in ausreichend großem Abstand zu Industriebetrieben errichtet werden, wenn dort gefährliche Stoffe verarbeitet werden. Diesen Sicherheitsabstand unterschreite das geplante Gartencenter.

Art. 12 Abs. 1 RiL 96/82/EG bestimmt, dass die EG-Mitgliedstaaten bei der Flächenausweisung und -nutzung das Ziel berücksichtigen müssen, schwere Unfälle zu verhüten und ihre Folgen zu begrenzen. Dazu haben sie u.a. die Ansiedlung neuer Betriebe sowie die Entwicklung in der Nachbarschaft bestehender Betriebe zu überwachen. Sie sollen auch mittels der Verfahren zur Durchführung ihrer Flächenausweisungspolitik dafür sorgen, dass langfristig dem Erfordernis Rechnung getragen wird, dass angemessene Abstände zu gefährlichen Industriebetrieben gewahrt werden.

Der Bauherr klagte gegen den Widerspruchsbescheid und erhielt sowohl vor dem Verwaltungsgericht als auch vor dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof Recht. Beide Gerichte begründeten ihre Entscheidung damit, dass die Baugenehmigung nach § 34 BauGB zwingend erteilt werden müsse.

Das daraufhin angerufene Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hielt den Bau des Gartencenters nach deutschem Recht ebenfalls für genehmigungsfähig. Allerdings stellte sich ihm die Frage, ob und wie weit Art. 12 Abs. 1 RiL 96/82/EG auf die Entscheidung einwirke. Es legte die Sache daher dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Vorabentscheidung vor. Das BVerwG wollte zunächst wissen, ob sich die Verpflichtung aus Art. 12 Abs. 1 RiL 96/82/EG nur an Planungsträger richte, die bei ihren Planungen Interessen gegeneinander abzuwägen hätten, oder auch an Baugenehmigungsbehörden, die ggf. eine gebundene Entscheidung erlassen müssten. Sollte letzteres der Fall sein, wollte das BVerwG durch zwei weitere Fragen in Erfahrung bringen, ob die Richtlinie es dann verbiete, eine den Abstand unterschreitende Neuansiedlung zu erlauben, wenn in der Nachbarschaft bereits vergleichbar genutzte Gebäude vorhanden seien.

Die Entscheidung des EuGH

Der EuGH hat zunächst die erste Frage beantwortet:

Art. 12 Abs. 1 RiL 96/82/EG richte sich in erster Linie an die Planungsträger. Allerdings müssten die Mitgliedstaaten die Verpflichtung auch sonst berücksichtigen, insbesondere bei den „Verfahren für die Durchführung" ihrer Planungen. Daraus folge, dass die Verpflichtung auch für die Genehmigungsbehörden gelte (EuGH, Urteil v. 15.09.2011, Az.: C-53/10, Rn. 19).

Dies soll auch dann gelten, wenn ein Bebauungsplan fehle. Dieser Umstand könne die Behörden nämlich nicht von der Pflicht entheben, das Erfordernis der Wahrung angemessener Abstände zwischen den unter die „Seveso-II-Richtlinie" fallenden Betrieben einerseits und den angrenzenden Gebieten andererseits zu berücksichtigen (EuGH, a.a.O. Rn. 21). Die Verpflichtung zur Berücksichtigung des Erfordernisses werde sonst leicht umgangen und die praktische Wirksamkeit der Richtlinie missachtet, wenn es möglich wäre, sich auf das Fehlen eines Bebauungsplanes zu berufen. So könne das Ziel der Richtlinie beeinträchtigt werden, die Folgen schwerer Unfälle zu begrenzen (EuGH, a.a.O. Rn. 22).

Bei der Erfüllung der Verpflichtung aus Art. 12 Abs. 1 RiL 96/82/EG gibt der EuGH den Mitgliedstaaten jedoch einen weiten Spielraum: Zunächst billigt er den Behörden der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Festlegung der Abstände einen „Wertungsspielraum" zu, von dem aber innerhalb der Grenzen der Verpflichtung Gebrauch gemacht werden muss (EuGH, a.a.O. Rn. 24). Die Richtlinie schreibe außerdem weder die Methode zur Festlegung der angemessenen Abstände noch die Art und Weise ihrer Anwendung vor (EuGH, a.a.O. Rn. 27).

Außerdem weist der EuGH darauf hin, dass das fragliche Erfordernis zu irgendeinem Zeitpunkt des Verfahrens zur Durchführung der Pläne oder Politiken zur Flächenausweisung oder -nutzung beachtet werden muss. Diesen Zeitpunkt dürften die Mitgliedstaaten jedoch frei wählen. Die Behörden der Mitgliedstaaten können die Abstände schon in der Planungsphase - also bei der Aufstellung von Bebauungsplänen - berücksichtigen, aber das Erfordernis der Berücksichtigung auch auf die Genehmigungsbehörden übertragen. Wichtig sei, dass überhaupt eine Berücksichtigung stattfände (vgl. EuGH, a.a.O. Rn. 25 f.).

In einem Punkt blieb der EuGH allerdings entschieden: Sollte eine Baubehörde nach nationalem Recht eine gebundene Entscheidung erteilen müssen und aufgrund dessen an einer eigenen Beurteilung des Erfordernisses der Wahrung angemessener Abstände gehindert sein, kann das nur geschehen, wenn schon die Planungsbehörde dem Erfordernis Rechnung getragen hat. Sollte dies nicht passiert sein, müsse die Baugenehmigungsbehörde der Verpflichtung selbst nachkommen. Dies ergebe sich aus der Verpflichtung, das in der Richtlinie vorgesehene Ziel zu erreichen und dem Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts (EuGH, a.a.O. Rn. 28 ff.).

Die weiteren Fragen beantwortete der EuGH folgendermaßen:

Der den Behörden zugebilligte Wertungsspielraum dürfe nicht so ausgelegt werden, dass alle Vorhaben abgelehnt werden müssten, die die angemessenen Abstände unterschritten (EuGH, a.a.O. Rn. 41 f.). Die zu berücksichtigenden Faktoren seien je nach den besonderen Gegebenheiten der Gebiete zu beachten. Es müssten Einzelfallentscheidungen erlassen werden, da die potentiell betroffenen Gebiete und Bauvorhaben sich zumeist in erheblichem Maße voneinander unterschieden (EuGH, a.a.O. Rn. 44).

Die festgelegten bzw. festzulegenden Abstände dürften daher nicht das einzige Genehmigungs- oder Ablehnungskriterium nach Maßgabe des Standorts neuer Ansiedlungsvorhaben in der Nachbarschaft bestehender Betriebe sein (EuGH, a.a.O. Rn. 45).

Daher stünden nationale Vorschriften, die eine zwingend zu erteilende Baugenehmigung vorsehen, dem EU-Recht soweit entgegen, wie sie keine Berücksichtigung der erforderlichen Abstände bei der Entscheidung über eine Ansiedlung verlangen (vgl. EuGH, a.a.O. Rn. 51).

Nach diesen Grundsätzen muss das BVerwG den Sachverhalt nun entscheiden.

Folgen für die Praxis

Das Urteil des EuGH greift tief in das deutsche Baurecht ein: Im unbeplanten Innenbereich war bislang allein maßgeblich, ob sich das Bauvorhaben in die nähere Umgebung einfügt. War dies der Fall, durfte der Bauherr sein Eigentumsrecht nutzen und den von ihm beabsichtigten Bau errichten. Nun muss die Bauordnungsbehörde jedoch den Abstand eines Vorhabens zu gefährlichen Industrieanlagen bei der Entscheidung über die Genehmigung berücksichtigen - aus der gebundenen Entscheidung ist eine Ermessensentscheidung geworden.

Für Vorhaben in der Nähe von Industrieanlagen entsteht durch das Urteil jedoch die Schwierigkeit, dass sie wegen eines zu geringen Abstands zur Industrie abgelehnt werden können - auch wenn sie nach deutschem Baurecht grundsätzlich genehmigungsfähig wären. Je nach Strenge der Berücksichtigung des Abstandserfordernisses kann das dazu führen, dass verschiedene Baugenehmigungsbehörden die gleiche örtliche Situation unterschiedlich beurteilen würden. Die Behörden stehen nämlich vor dem Problem, dass das geltende Baurecht ihnen keine verbindlichen Werkzeuge an die Hand gibt, Sicherheitsabstände einheitlich zu ermitteln. Das EuGH-Urteil hat daher in einem Bereich zu Rechtsunsicherheiten geführt, der durch die Regelung des § 34 BauGB Streitigkeiten gerade entzogen werden sollte.

Auch Industrieunternehmen dürften nun vor größere Schwierigkeiten gestellt werden, geeignete Standorte zu finden oder sich in eng besiedelten Gebieten zu erweitern, weil in noch größerem Ausmaß als bisher zugleich mit der Ansiedlung über die Folgen für die übrige Bebaubarkeit im Gemeindegebiet entschieden wird.

Investoren werden bei unklarer Abstandssituation zunächst vermehrt das Instrument des Bauvorbescheids nutzen oder auf zuvor in Auftrag gegebene Gutachten zurückgreifen müssen, ehe sie eine Baugenehmigung für ein Vorhaben beantragen können. Dies sorgt jedoch für höhere Kosten und eine deutliche zeitliche Verzögerung des Bauvorhabens.

Auch die Gerichte werden sich vermehrt mit der Zulässigkeit von Bauprojekten in der Nähe von gefährlichen Industrieanlagen beschäftigen müssen. Dies gilt umso mehr, da der EuGH jüngst Umweltverbänden erweiterte Klagerechte zugesprochen hat.

Dr. Volker Stehlin

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