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Verfall von Urlaub aus gesundheitlichen Gründen

Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 20.12.2022 – Az. 9 AZR 245/91 – entschieden, dass der Anspruch auf gesetzlichen Mindesturlaub aus einem Urlaubsjahr, in dem der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet hat, bevor er aus gesundheitlichen Gründen an der Inanspruchnahme seines Urlaubs gehindert war, regelmäßig nur dann nach Ablauf eines Übertragungszeitraums von 15 Monaten erlischt, wenn der Arbeitgeber ihn rechtzeitig in die Lage versetzt hat, seinen Urlaub in Anspruch zu nehmen. Dies folge aus einer richtlinienkonformen Auslegung des § 7 Abs. 1 und Abs. 3 BUrlG.

Sachverhalt

Der als schwerbehinderter Mensch anerkannte Kläger ist bei der beklagten Flughafengesellschaft als Frachtfahrer im Geschäftsbereich Bodenverkehrsdienste beschäftigt. In der Zeit vom 1. Dezember 2014 bis mindestens August 2019 konnte er wegen voller Erwerbsminderung aus gesundheitlichen Gründen seine Arbeitsleistung nicht erbringen und deshalb seinen Urlaub nicht nehmen. Mit seiner Klage hat er unter anderem geltend gemacht, ihm stehe noch Resturlaub aus dem Jahr 2014 zu. Dieser sei nicht verfallen, weil die Beklagte ihren Obliegenheiten, an der Gewährung und Inanspruchnahme von Urlaub mitzuwirken, nicht nachgekommen sei.

Beim Arbeitsgericht und in der Berufungsinstanz blieb der Kläger erfolglos. Die Revision des Klägers hatte dagegen hinsichtlich des Resturlaubs aus dem Jahr 2014 überwiegend Erfolg, wenngleich die Revision im Übrigen wegen streitiger Urlaubsansprüche aus weiteren Jahren aus prozessualen Gründen erfolglos blieb.

Entscheidungsgründe

Nach Auffassung des Senats verfiel entgegen der Auffassung der Beklagten der im Jahr 2014 nicht genommene Urlaub des Klägers nicht allein aus gesundheitlichen Gründen.

Denn grundsätzlich erlöschen Urlaubsansprüche nur dann am Ende des Kalenderjahres (§ 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG) oder eines zulässigen Übertragungszeitraums (§ 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG), wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor durch Erfüllung der dem Arbeitgeber obliegenden sog. Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch (tatsächlich) wahrzunehmen, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat. Besonderheiten bestehen, wenn der Arbeitnehmer seinen Urlaub aus gesundheitlichen Gründen nicht nehmen konnte.

Nach bisheriger Rechtsprechung des neunten Senats gingen die gesetzlichen Urlaubsansprüche in einem solchen Fall – bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit – ohne weiteres mit Ablauf des 31. März des zweiten Folgejahres unter, also nach Ablauf der „15-Monatsfrist“. Diese Rechtsprechung hat der Senat mit der vorliegenden Entscheidung weiterentwickelt, dies in Umsetzung der Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs aufgrund der Vorabentscheidung vom 22. September 2022 (C-518/20 und C-727/20 – [Fraport]), um die der erkennende Senat mit Beschluss vom 7. Juli 2020 (9 AZR 401/19 (A)) ersucht hatte.

Danach verfalle zwar weiterhin der Urlaubsanspruch mit Ablauf der 15-Monatsfrist, wenn der Arbeitnehmer seit Beginn des Urlaubsjahres durchgehend bis zum 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres aus gesundheitlichen Gründen daran gehindert war, seinen Urlaub anzutreten. Für diesen Fall komme es nicht darauf an, ob der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nachgekommen ist, weil diese nicht zur Inanspruchnahme des Urlaubs hätten beitragen können.

Anders verhalte es sich jedoch, wenn der Arbeitnehmer – wie vorliegend der Kläger – im Urlaubsjahr tatsächlich (noch) gearbeitet hat, bevor er voll erwerbsgemindert oder krankheitsbedingt arbeitsunfähig geworden ist. In dieser Fallkonstellation setze die Befristung des Urlaubsanspruchs regelmäßig voraus, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer rechtzeitig vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit in die Lage versetzt hat, seinen Urlaub auch tatsächlich (noch) zu nehmen.

Der für das Jahr 2014 im Umfang von 24 Arbeitstagen noch nicht erfüllte Urlaubsanspruch habe danach nicht allein deshalb mit Ablauf des 31. März 2016 erlöschen können, weil der Kläger nach Eintritt seiner vollen Erwerbsminderung mindestens bis August 2019 aus gesundheitlichen Gründen außerstande war, seinen Urlaub anzutreten. Der Resturlaub blieb ihm für dieses Jahr vielmehr erhalten, weil die Beklagte ihren Mitwirkungsobliegenheiten bis zum 1. Dezember 2014 nicht nachgekommen ist, obwohl ihr dies möglich gewesen sei.

Hinweis für die Praxis

Das Urteil des BAG überrascht angesichts der genannten EuGH-Urteils nicht und entwickelt die jüngere BAG-Rechtsprechung zum Urlaubsverfall konsequent fort. Der im Rahmen der Mitwirkungsobliegenheit des Arbeitgebers erforderliche Hinweis muss individuell, konkret und transparent erfolgen und die Mitteilung enthalten, dass der Urlaub am Ende des Bezugs- oder Übertragungszeitraums verfallen wird, wenn der Arbeitnehmer ihn nicht nimmt.

Obgleich die Mitwirkungsobliegenheit vom BAG erst 2019 „erfunden“ wurde, scheidet eine Berufung auf Vertrauensschutz für vorangehende Zeiträume aus, sodass Arbeitgeber auch rückwirkend – letztlich unbegrenzt – bestehende Urlaubsansprüche erfüllen müssen.

Der Senat hat am 20. Dezember 2022 unter Zugrundelegung der entsprechenden Rechtsgrundsätze ebenso die Rechtsache – 9 AZR 401/19 – entschieden, die auf Ersuchen des Senats vom 7. Juli 2020 (9 AZR 401/19 (A)) ebenfalls Gegenstand der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 22. September 2022 (C-518/20 und C-727/20 – [Fraport]) war.

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