Kündigung schwerbehinderter Arbeitnehmer – auch in den ersten sechs Monaten erheblich erschwert oder gar faktisch unmöglich?
Diese Frage stellt sich nach einem Urteil des Arbeitsgerichts Freiburg, das sich – ebenso wie bereits das Arbeitsgericht Köln – gegen die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts gestellt hat.
Sachverhalt
Die Parteien streiten über die Rechtswirksamkeit einer innerhalb der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses ausgesprochenen Kündigung.
Der 53-jährige Kläger ist schwerbehindert mit einem GdB von 50. Er ist in Kenntnis der Schwerbehinderung von der beklagten Stadt in Teilzeit mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 19,5 Stunden am 16.10.2023 eingestellt worden. Ob der Beklagten die der Schwerbehinderung zugrunde liegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen (Seelische Störung, Nierenfunktionseinschränkung, Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Bluthochdruck sowie Schlafapnoe-Syndrom) bekannt waren, ist streitig. Die Beklagte führte mit dem Kläger am 10.11.2023, 08.01.2024, 10.01. 2024 und 16.01.2024 Mitarbeitergespräche.
Nach Anhörung des Personalrats gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 9 LPVG BW und der Schwerbehindertenvertretung gemäß § 178 Abs. 2 SGB IX erklärte die Beklagte mit Schreiben vom 06.02.2024, dem Kläger zugegangen am 13.02.2024, die Kündigung des Arbeitsverhältnisses zum 29.02.2024. Mit Blick auf die Regelung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX hatte die Beklagte vor Ausspruch der Kündigung nicht die Zustimmung des Integrationsamts gemäß § 168 SGB IX eingeholt. Sie informierte das Integrationsamt am 14.02.2024 über die Kündigung, § 173 Abs. 4 SGB IX.
Vor Ausspruch der Kündigung hatte die Beklagte ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX weder eingeleitet noch abschließend durchgeführt.
Der Kläger ist der Auffassung, die Kündigung verstoße gegen das Diskriminierungsverbot des § 164 Abs. 2 SGB IX und sei deshalb rechtsunwirksam.
Entscheidungsgründe
Das Arbeitsgerichts Freiburg (Urteil vom 04.06.2024 – 2 Ca 51/24) hat im Ergebnis zugunsten des Klägers entschieden.
Zwar habe die Kündigung nicht der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes bedurft (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX), auch sei das Kündigungsschutzgesetz auf das Arbeitsverhältnis der Parteien innerhalb der ersten sechs Monate (noch) nicht anwendbar gewesen. Die Kündigung verstoße jedoch nach § 134 BGB i.V.m. § 164 Abs. 2 S. 1 SGB IX gegen ein gesetzliches Verbot, nämlich dasjenige der Benachteiligung von Schwerbehinderten.
Die Beklagte sei nämlich ihren Verpflichtungen zur Durchführung eines Präventionsverfahren nach § 167 SGB IX nicht nachgekommen. Entgegen der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (Urteil vom 21.04.2016 – 8 AZR 402/14, Rn. 27 ff) bestehe diese Pflicht bereits innerhalb der ersten sechs Monate des Bestandes eines Arbeitsverhältnisses. Aufgrund dieses Verstoßes lägen Indizien vor, die eine Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung vermuten lassen. Nach § 22 AGG hätte daher die Beklagte darlegen und beweisen müssen, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat. Dies sei der Beklagten vorliegend nicht gelungen.
Es könne aufgrund des vorliegenden Sachverhalts auch nicht davon ausgegangen werden, dass das Präventionsverfahren ergebnislos verlaufen wäre. Es sei nämlich nicht auszuschließen, dass die aufgetretenen Schwierigkeiten beispielsweise in einem anderen Arbeitsumfeld oder bei konkreterer Unterstützung und Anleitung des Klägers hätten vermieden werden können.
Hinweis für die Praxis
Die Durchführung eines Präventionsverfahrens nimmt erhebliche Zeit in Anspruch. In der aktuellen praktischen Tätigkeit des Unterzeichners lagen zwischen der Einleitung eines Präventionsverfahren und dem ersten Gesprächs- bzw. Erörterungstermin etwas mehr als vier Monate. Konkret wurde in diesem Termin eine modifizierte Beschäftigung für eine Erprobungsphase von drei Monaten vereinbart. Angesichts dieser zeitlichen Abläufe bleibt von einer »kündigungsschutzfreien Erprobungsphase«, deren Ermöglichung sowohl die Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG als auch die Regelung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX dienen sollen, im Ergebnis nichts übrig, wenn man entgegen der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts die Pflicht zur Einleitung und Durchführung eines Präventionsverfahren bereits innerhalb der ersten sechs Beschäftigungsmonate bejaht.
Das Arbeitsgericht hat die ohnehin statthafte Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache ausdrücklich zugelassen. Es bleibt abzuwarten, ob und mit welchem Ergebnis der Rechtsstreit durch die Instanzen geht. Für die betriebliche Praxis ist die streitige Frage von erheblicher Bedeutung.
3. September 2024