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Der Beweiswert einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung: Was können Arbeitgeber tun?

Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg (Urteil vom 05.07.2024 – 12 Sa 1266/23) hatte sich in einer neueren Entscheidung mit den Anforderungen an die Erschütterung des Beweiswerts einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auseinanderzusetzen.

Sachverhalt

Dem Urteil des Landesarbeitsgerichts (LAG) Berlin-Brandenburg liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Die Parteien streiten über die Rückzahlung gewährter Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.

Der Kläger war seit dem 15.11.2021 als Produktionsleiter bei der Beklagten beschäftigt. Am 26.10.2022 kündigte die Beklagte dem Kläger mündlich das Arbeitsverhältnis. Am 27.10.2022 meldete sich der Kläger arbeitsunfähig krank; seit diesem Tag arbeitete der Kläger nicht mehr für die Beklagte. Mit Schreiben vom 28.10.2022, dem Kläger noch am selben Tag zugegangen, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger ordentlich zum 30.11.2022. Der Kläger übersandte der Beklagten ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen als Erstbescheinigung über die Feststellung einer Arbeitsunfähigkeit am 27.10.2022 seit diesem Tag bis zum 10.11.2022 und als Folgebescheinigung vom 09.11.2022 über eine Arbeitsunfähigkeit bis zum 30.11.2022. Am 12.11.2022 war der Kläger im Rahmen eines Handballspiels als Spieler aktiv. Am 19.11.2022 war der Kläger bei einem Handballspiel Schiedsrichter.

Die Beklagte leistete an den Kläger als Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für den Zeitraum ab dem 27.10.2022 für zwei Arbeitstage im Oktober 2022 371,42 EUR brutto und für November 2022 3.900 EUR brutto. Die Beklagte hat im Wege der Widerklage die Rückzahlung der für Oktober und November 2022 geleisteten Entgeltfortzahlung geltend gemacht.

Das erstinstanzlich zuständige Arbeitsgericht hat die Widerklage abgewiesen; es ist zu dem Ergebnis gelangt, dass der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nicht erschüttert sei.

Entscheidungsgründe

Die gegen die Entscheidung des Arbeitsgerichts gerichtete Berufung hatte Erfolg; sie führte zu der zuletzt von der Beklagten beantragten Abänderung des erstinstanzlichen Urteils.

Anspruchsgrundlage für die Rückforderung der geleisteten Entgeltfortzahlung sei § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB (Leistungskondiktion). Danach ist derjenige, der durch die Leistung eines anderen auf dessen Kosten etwas ohne rechtlichen Grund erlangt hat, diesem zur Herausgabe verpflichtet. Dies umfasse die Rückforderung vom Arbeitgeber erbrachter Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bei tatsächlich nicht bestehender krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers.

Für das Fehlen des Rechtsgrundes sei grundsätzlich die Beklagte darlegungs- und beweisbelastet gewesen. Eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung müsse der Arbeitgeber durch von ihm darzulegende und ggf. zu beweisende Umstände in ihrem Beweiswert erschüttern. Ansonsten widerlege sie das behauptete Fehlen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit. Außerdem müsse der Arbeitgeber konkreten Vortrag des Arbeitnehmers zu den konkreten Umständen der Erkrankung und einer daraus resultierenden Arbeitsunfähigkeit ggf. durch erfolgreiche Beweisführung widerlegen. Erkläre sich aber der Arbeitnehmer nicht zu den konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen und deren Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit, so gelte die Behauptung des Arbeitgebers, der Arbeitnehmer sei nicht infolge Krankheit arbeitsunfähig gewesen, und damit die Rechtsgrundlosigkeit der Entgeltfortzahlung als zugestanden.

Ein Indiz zur Erschütterung des Beweiswerts einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung könne es sein, wenn die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung passgenau die nach einer Kündigung noch verbleibende Dauer des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist abdecke. Hierbei sei nicht entscheidend, ob es sich um eine Kündigung von Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberseite handelt.

Auch die Missachtung der Vorgabe aus § 5 Abs. 4 Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie, wonach die voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit nicht für einen mehr als zwei Wochen im Voraus liegenden Zeitraum bescheinigt werden soll, gehöre zu den Indizien, die den Beweiswert der ärztlichen Bescheinigung erschüttern können.

Was das Ausüben von Freizeitsport während der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit angeht, so sei auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen. Im Allgemeinen werden begründete Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit zu verneinen sein. In derartigen Fällen solle aber angesichts der ungünstigen Beweissituation, in der sich der Arbeitgeber ohnehin befinde, nicht zu restriktiv entschieden werden.

In Anwendung dieser Grundsätze und Überlegungen sei vorliegend jedenfalls in der Gesamtschau der Indizien auf eine Erschütterung des Beweiswerts der ärztlichen Bescheinigungen vom 27.10 und vom 09.11.2022 zu schließen.

Die Möglichkeit der Begutachtung durch den medizinischen Dienst bedeute nicht, dass bei Ausbleiben einer Begutachtung eine Erschütterung des Beweiswerts einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausgeschlossen sein würde. Nach § 275 Abs. 1a S. 3 SGB V könne der Arbeitgeber verlangen, dass die Krankenkasse eine gutachterliche Stellungnahme des medizinischen Dienstes zur Überprüfung der Arbeitsunfähigkeit einhole. Das Ausbleiben eines solchen Verlangens schließe aber eine gerichtliche Auseinandersetzung über die Frage nicht aus.

Im Hinblick auf die Erschütterung des Beweiswerts der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen hätte es dem Kläger oblegen vorzutragen, welche tatsächlichen physischen oder psychischen Hintergründe vorgelegen haben, sodass er im Sinne von § 3 Abs 1. S. 1 EFZG infolge Krankheit an der Arbeitsleistung gehindert war. Irgendein Vortrag zu den Umständen einer Erkrankung sei aber nicht erfolgt.

Hinweise für die Praxis

Arbeitgebern sollte in Zweifelsfällen stets bewusst sein, dass sie unter bestimmten Umständen den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttern können. Die Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg zeigt erneut, wie wichtig hierbei die Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ist. Anhaltspunkte, die den Beweiswert einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttern könnten, sollten zusammengetragen werden. Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sollten insbesondere dann, wenn diese den Zeitraum einer Kündigungsfrist genau abdecken und ggf. noch weitere Umstände hinzukommen, besonders kritisch hinterfragt werden. Für Arbeitgeber empfiehlt sich ferner, die Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie im Blick zu behalten. Zu bedenken ist aber auch: Je konkreter der betroffene Arbeitnehmer zu den Umständen seiner Erkrankung bzw. seiner Arbeitsunfähigkeit vorträgt, desto schwieriger wird die Situation für den Arbeitgeber.

Insgesamt überzeugt die Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung; es muss für Arbeitgeber in der alltäglichen Praxis möglich bleiben, den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in begründeten Fällen erschüttern zu können.

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