Prof. Dr. Tobias LenzJerome Nimmesgern

Keine generelle Prüfungspflicht: Zur Haftung der benannten Stelle für fehlerhafte Medizinprodukte (Brustimplantate aus minderwertigem Industriesilikon) – Urteil des EuGH

Der EuGH hat am 16.02.2017 im Zusammenhang mit dem sog. „PIP-Skandal“ ein mit Spannung erwartetes Urteil (Rs. C-219/15) gefällt und entschieden, dass eine unabhängige Prüf- und Zertifizierungsstelle (sog. benannte Stelle) – wie der TÜV – nicht generell, sondern nur anlassbezogen – nämlich bei Hinweisen auf fehlerhafte Medizinprodukte – verpflichtet sein kann, beim Hersteller von Medizinprodukten unangemeldete Inspektionen durchzuführen, Produkte zu prüfen und/oder Geschäftsunterlagen zu sichten. Eine benannte Stelle wird – so der EuGH – auch zum Schutz der Endempfänger von Medizinprodukten tätig.

Zum Hintergrund

Die Klägerin ließ sich im Dezember 2008 in Deutschland Brustimplantate einsetzen, die in Frankreich vom französischen Hersteller Poly Implant Prothèse (im Folgenden: PIP) hergestellt worden waren. Nachdem die französischen Behörden im Jahr 2010 festgestellt hatten, dass PIP die Implantate, die zu den Medizinprodukten mit der höchsten Risikoklasse (III) gehören – entgegen den geltenden Qualitätsstandards – mit angeblich „minderwertigem Industriesilikon“ herstellte, ließ sich die Klägerin auf ärztlichen Rat hin ihre Implantate im Jahr 2012 wieder entfernen.

PIP hatte die TÜV Rheinland LGA Products GmbH (die Beklagte), als benannte Stelle im Sinne der Medizinprodukterichtlinie 93/42/EWG mit der Bewertung (Prüfung und Überwachung) ihres Qualitätssicherungssystems beauftragt. Die Beklagte führte in diesem Rahmen u.a. zwischen 1998 und 2008 zahlreiche angekündigte Besichtigungen in der französischen Niederlassung von PIP durch. Einsicht in die Geschäftsunterlagen von PIP, wie Rechnungen und Lieferscheine, nahm die Beklagte nicht. Auch Produktprüfungen hatte die Beklagte zu keinem Zeitpunkt angeordnet.

Da PIP zwischenzeitlich insolvent war, verklagte die Klägerin die Beklagte auf Zahlung von Schmerzensgeld sowie auf Feststellung der Ersatzpflicht sämtlicher materieller und immaterieller Zukunftsschäden. Die Klägerin argumentierte, dass die Beklagte durch Einsichtnahme in die Lieferscheine und Rechnungen – wozu sie verpflichtet gewesen sei – hätte erkennen können, dass von PIP „nicht genehmigtes“ Silikon verwendet wurde.

Die Klage blieb in erster und zweiter Instanz ohne Erfolg. Die Klägerin legte Revision beim BGH ein. Der BGH setzte das Verfahren aus und wandte sich mit einem Vorabentscheidungsersuchen (Art. 267 AEUV) an den EuGH: Für die Haftung der Beklagten nach deutschem Recht sei es – so der BGH – erforderlich, dass diese gegen eine Pflicht aus dem Zertifizierungsvertrag mit PIP, in den die Klägerin als ggf. schutzwürdige Dritte einbezogen worden sein könnte, oder gegen ein Schutzgesetz verstoßen habe. Um dies beurteilen zu können, sei von wesentlicher Bedeutung, welchen Zweck die Richtlinie 93/42/EWG mit dem Konformitätsbewertungsverfahren verfolgt, bzw. welche Pflichten der benannten Stelle in diesem Zusammenhang obliegen.

Die Entscheidung des EuGH

Mit seinem Urteil vom 16.02.2017 stellt der EuGH nunmehr fest, dass die Richtlinie 93/42/EWG dahin auszulegen ist, dass die benannte Stelle im Rahmen des Konformitätsbewertungsverfahrens zum Schutz der Endempfänger der Medizinprodukte tätig wird. Die Voraussetzungen, unter denen eine benannte Stelle schuldhaft gegen eine ihr gemäß der Richtlinie obliegenden Pflichten verstoßen hat, unterliegen – so der EuGH – jedoch dem nationalen Recht.

Ferner stellt der EuGH fest, dass die Bestimmungen der Richtlinie 93/42/EWG (in concreto deren Anhang II i.V.m. Artikel 11 Abs. 1 und 10, 16 Abs. 6) die benannte Stelle nicht generell verpflichten, unangemeldete Inspektionen durchzuführen, Produkte zu prüfen und/oder Geschäftsunterlagen des Herstellers zu sichten. Eine solche Pflicht bestehe allenfalls anlassbezogen. Das bedeutet für benannte Stellen: Wenn diese Hinweise erhalten, dass ein Medizinprodukt die Anforderungen der Richtlinie möglicherweise nicht erfüllt, müssen sie erforderliche Maßnahmen ergreifen, um ihren Verpflichtungen aus der Medizinprodukte-Richtlinie nachzukommen. Zu diesen (anlassbezogenen) Verpflichtungen gehört es dann u.a., dass die benannte Stelle sich davon überzeugt, dass der Hersteller die Verpflichtungen, die sich aus dem genehmigten Qualitätssicherungssystem ergeben, ordnungsgemäß einhält, und dass sie ggfs. feststellt, ob die EG- Konformitätserklärung aufrechterhalten werden kann.

Der BGH wird nun zu prüfen haben, ob die Beklagte nach deutschem Recht tatsächlich haftet, weil sie etwaige Hinweise auf eine Fehlerhaftigkeit der Implantate gehabt und ihre anlassbezogenen Prüfungspflichten verletzt haben könnte. Das darf – in Anbetracht der Feststellungen der Instanzgerichte – bezweifelt werden, weshalb sich die vom PIP-Skandal betroffenen Frauen im Ergebnis wohl keine großen Hoffnungen auf Schadenersatzansprüche gegen den TÜV Rheinland machen können dürften.

Auswirkungen auf die Praxis

Eine Haftung unabhängiger Prüf- und Zertifizierungsstellen als benannte Stellen für fehlerhafte Medizinprodukte der sie beauftragenden Hersteller ist unter den dargestellten besonderen Umständen – Nichteinschreiten bei Hinweisen auf eine Nichtkonformität der Produkte – auch gegenüber den Endempfängern möglich.

Benannte Stellen sind aufgrund der damit verbundenen – potentiell erheblichen – Haftungsrisiken gut beraten, sicherzustellen, dass Hinweise auf nicht konforme Medizinprodukte rechtzeitig erkannt, überprüft und die nötigen Schritte gegenüber den Herstellern eingeleitet werden. Das gilt erst recht mit Blick auf die geplante neue EU-Medizinprodukteverordnung, die stufenweise – bis 2020 – in Kraft treten und die gesetzlichen Überwachungspflichten von benannten Stellen ausdehnen (u.a. unangekündigte Überprüfungen) soll. Aufgrund dieser – nunmehr verschärften – Ausgangslage sollten benannte Stellen auch ihren Versicherungsschutz überprüfen und gegebenenfalls anpassen.

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